Parteiprogramme beim Wort genommen

Der unerschrockene Aufklärer

Haben Sie auch den Eindruck, dass die Kommunikation siegreicher Politiker in letzter Zeit manchmal der von Popstars ähnelt? Woran liegt das wohl? Und ist das eigentlich etwas Schlechtes?

Ein Grund könnte sein, dass das Alter von Politikern sich zunehmend dem von Popstars annähert. Der jüngste französische Staatspräsident aller Zeiten, Emmanuel Macron, ist 39 Jahre alt; der wahrscheinliche neue Bundeskanzler Österreichs, Sebastian Kurz, gerade einmal 31. Haben wir es einfach nur mit einer neuen Generation von Politikern zu tun, an deren Auftreten und Rhetorik wir uns einfach noch gewöhnen müssen?

So einfach ist es nicht: Dass Politiker aufmerksamkeitsstarke Kommunikationswege nutzen, ist letztlich nur konsequent. Dass den Jüngeren das leichter fällt, ist keine Überraschung – aber auch kein Gesetz, wie der Twitter-Wahlkampf von Donald Trump zeigt.

Die Frage ist, wie Politiker diese Mittel einsetzen – und wie sie Sprache dabei nutzen. Die genannten Beispiele Macron und Kurz etwa haben in puncto Substanz herzlich wenige Überschneidungen. Ihre Gemeinsamkeit liegt nicht in den Inhalten, sondern vielmehr in der Art, wie sie ihre Inhalte transportieren: auf neuen Wegen, die vor allem von der Kürze ihrer Botschaften leben. Mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt.

Das Beispiel Macron zeigt, dass der Einsatz von sozialen Netzwerke im Wahlkampf nicht zwingend einen Vorteil für populistische Bewegungen darstellen muss. Auch online ist Raum für differenzierte Inhalte; und gerade Macron ist einer, der seine Thesen auch über die Länge eines einstündigen Interviews und gegen Einwände rhetorisch souverän verteidigen kann. Die neuen Kommunikationskanäle lassen sich sowohl substanzfördernd als auch substanzerodierend einsetzen – wie jedes andere Medium auch. Nicht nur der amerikanische und der französische, sondern auch der deutsche Bundestagswahlkampf 2017 zeigen jedoch, dass vor allem die mit den „einfachen Lösungen“ diesen Trend zu nutzen wissen.

Vielleicht wäre das halb so wild und die Populisten nur halb so stark, wenn andere politische Akteure den unqualifiziert vereinfachenden Botschaften mehr Substanz entgegensetzen würden. Nennen Sie mich naiv: Mein Eindruck ist, dass die meisten Menschen immer noch gern nachdenken, reflektieren und hinterfragen, wenn man sie mit substanziellen Fragestellungen konfrontiert.

Doch genau an dieser Substanz mangelt es möglicherweise in den politischen Debatten, die derzeit geführt werden. Darauf weist auch eine Analyse des Linguisten Dr. Simon Meier von der Technischen Universität Berlin hin. Er hat gemeinsam mit Studenten untersucht, mit welcher Häufigkeit die Parteien in ihren Wahlprogrammen bestimmte Worte nutzen. Werden einzelne Begriffe im Vergleich zu anderen Parteien mit einer signifikant höheren Häufigkeit verwendet, lassen sich daraus Schlüsse ziehen, wofür die Partei konkret steht. Sie kennen das vielleicht von Ihren Kindern: Wenn die das Wort „Fernsehen“ in einer freitäglichen Familiendebatte signifikant häufiger verwenden als das Wort „Hausaufgaben“, können Sie daraus Schlüsse ziehen, welche Haltung Ihre Kinder zum Thema Wochenendgestaltung haben. Auf eine ähnliche Weise ziehen wir als Wähler Schlüsse darüber, wo und wofür Parteien in unserer Wahrnehmung stehen.

Meier und seine Studenten haben die häufigsten Begriffe innerhalb der Wahlprogramme in Form von Wort-Wolken visualisiert – mit sehr aufschlussreichen Ergebnissen. Je größer ein Wort in der Wort-Wolke erscheint, desto stärker ist es mit der Partei verknüpft. So vermittelt die Wort-Wolke der Partei „Die Linke“ den Eindruck einer „Muss-Partei“ – kein Wort (außer „Linke“) kommt häufiger im Programm vor. Bei der AfD stehen – wenig überraschend – Begriffe wie „deutsch“, „Volk“, „Islam“ und „türkisch“ im Vordergrund. Das Programm der Grünen ist vor allem – ja, „grün“, und darüber hinaus geprägt von Begriffen wie „ökologisch“, „Auto“ und „Klimakrise“. Deutlicher als bei jeder anderen Partei hebt sich bei der FDP ein einzelner Begriff ab: „Demokrat“, flankiert von Worten wie „frei“, „Leistung“ und „Möglichkeit“.

Als „eigentümlich inhaltsleer“ beschreibt Linguist Meier die Wortwolke des CDU/CSU-Wahlprogramms. Dort finden sich unter den Worten mit der höchsten und sogar mittleren Häufigkeit so gut wie keine Begriffe, die sich einem konkreten politischen Inhalt zuordnen ließen. Zentral sind stattdessen Worte wie „Deutschland“, „unser“, „Land“, „Erfolg“ und „Zahl“ – also solche, aus denen sich schwerlich eine Position ableiten lässt. Auch bei der SPD fällt auf, dass das Kernthema des Wahlkampfs (Gerechtigkeit) in der Wortwolke untergeht; Signifikanz haben stattdessen Begriffe wie „wir“, „unterstützen“ und „modern“.

Die auffallende Beliebigkeit der Wort-Wolken gerade bei den beiden traditionellen Volksparteien kann als Hinweise gedeutet werden, dass die großen Parteien in Deutschland den pseudo-klaren Botschaften der Populisten programmatisch zu wenig entgegensetzen. Ein Substanz-Problem, dass das Wahlergebnis überdeutlich gespiegelt hat. Letztlich ist es ein rhetorisches Problem: Wenn man wichtige Themen denen überlässt, die bereitwillig auf Substanz verzichten, reicht manchmal schon eine Wort-Wolke, um zu zeigen, warum sie damit Erfolg haben.

Noch sind wir nicht so weit, dass politischer Erfolg sich durch Schlagworte quantifizieren ließe wie die „trending topics“ bei Twitter – jedenfalls nicht in Deutschland. Doch wenn Politiker fordern, dass Menschen sich mit ihren Inhalten auseinandersetzen, dann müssen sie auch B sagen – und die Menschen mit Inhalten konfrontieren, anstatt sie durch sinnentleerte Sprache vom Nachdenken zu entlasten.

Allein die Tatsache, dass an deutschen Hochschulen Seminare mit Titeln wie „Sprache und Politik“ stattfinden, stimmt mich allerdings zuversichtlich. Denn das spricht dafür, dass wir Botschaften aus dem Wahlkampf auch in Zukunft auf ihre Substanz hinterfragen werden. Marketing allein reicht eben nicht aus, um dauerhaft Erfolg in der Politik zu haben. Spätestens, wenn aus Themen Realpolitik wird, geht es an die Substanz.

Mit ein wenig mehr derselben in der Wahlkampf-Rhetorik allerdings könnten Politiker uns – und sich selbst – vielleicht manche böse Überraschung am Wahltag ersparen. Es liegt an uns, sie einzufordern.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht – ich bin jetzt schon gespannt auf den Wahlkampf 2021.

Die Wort-Wolken zu den Wahlprogrammen der Parteien können Sie hier einsehen.

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