Die Kompetenzerwartung, die wir an einen Menschen richten, ist eine tückische Sache: Wenn sie nicht eingelöst wird, ist die Enttäuschung groß. Wenn sie erfüllt wird, bekommt ein hervorragender Redner möglicherweise nicht mehr als unsere Zustimmung: „Klar, war nicht anders zu erwarten“. Die Schwelle zur Begeisterung ist hoch, wenn wir ohnehin schon eine besondere Leistung erwarten. Und doch gibt es Redner, die auch sie scheinbar mühelos überwinden – weil ihre Persönlichkeit über ihr angestammtes Kompetenzfeld hinaus trägt. Diese Redner erlangen in den Augen ihres Publikums eine Relevanz, die nur möglich ist, wenn Substanz und Individualität eine Wirkverbindung eingehen.
Manchmal habe ich das Glück, solche Redner bei gemeinsamen Veranstaltungen zu treffen. So geschehen kürzlich bei einem Event am Tegernsee. Dort sprach vor mir ein Mensch, den viele von Ihnen aus einem ganz anderen Kontext als der Rhetorik kennen werden: der Biathlet Sven Fischer, einer der erfolgreichsten deutschen Wintersportler der jüngeren Vergangenheit. Fischer, geboren 1971 in Schmalkalden, war 15 Jahre lang in der Biathlon-Weltspitze aktiv: von 1992 bis 2007. In dieser Zeit gewann er sagenhafte 57 Weltcup-Titel, vier olympische Goldmedaillen und siebenmal Weltmeisterschafts-Gold.
Ich höre den Sportlern unter den Rednern generell gern zu. Sie sind herumgekommen und haben Geschichten aus einem elitären Zirkel zu erzählen, die ich als, sagen wir: Sport-Minimalist besonders lehrreich finde. Sie verraten mir viel über die Arbeit an sich selbst und das Potenzial von Menschen. Wer über so lange Zeit konstante Leistungen auf einem so hohen Niveau erbracht hat, in welcher Disziplin auch immer, verfügt zweifellos über ein hohes Maß an Reflexionsvermögen, Fokussierung und analytischer Schärfe – alles Eigenschaften, die auch einem Redner gut zu Gesicht stehen. All das aber sorgt noch längst nicht dafür, dass zwischen einem Redner und seinem Publikum auch der Funke überspringt. Der kommt erst mit der Fähigkeit, die Stärke der eigenen Persönlichkeit und die Geschichte, an der sie gewachsen ist, auch Menschen mit einem ganz anderen Erfahrungshorizont zu vermitteln.
All diese Faktoren treffen bei Sven Fischer zusammen. Sie finden ihren Ausdruck in einer Rednerpersönlichkeit, der ich mit großem Interesse und großem Vergnügen gelauscht habe. Was mich dabei besonders beeindruck hat war, wie konsequent der Spitzensportler, der heute auch als Fernsehkommentator tätig ist, seine rhetorischen Mittel konsequent einsetzt, um seine persönlichen Stärken zu unterstreichen. Deshalb möchte ich Ihnen einige seiner Methoden als gelungenes Best-Practice-Paket für Rhetorik mit Persönlichkeit nahebringen. Denn so speziell die Geschichte von Sven Fischer sein mag – mit den richtigen Mitteln in der richtigen Kombination kann jede Rednerin und jeder Redner seine individuelle Geschichte auf beeindruckende Weise zum Tragen bringen.
Die hervorstechendste von Sven Fischers Qualitäten als Redner ist seine Fähigkeit, Brücken zu bauen. Das ist gerade für einen Spitzensportler eine schwierige Übung: Er berichtet von Erfahrungen und „Arbeitsbedingungen“, die für die meisten Menschen gelinde gesagt exotisch sind bzw. im Alltag unerreichbar scheinen. Von der Perspektive eines Olympiasiegers in die des Alltagsanwenders übersetzen zu können verlangt viel Empathie und rhetorisches Feingefühl.
Ein Beispiel aus Sven Fischers Vortrag: Er erklärte, welche entscheidende Bedeutung noch die letzte Nuance bei Material und Equipment hat, um an der Spitze noch die letzten Punkte einzufahren – da, wo es in einer umkämpften Konkurrenz gut und gern auch einmal um Hundertstelsekunden geht. Um die Brücke von dieser Feststellung zu schlagen, bediente der Redner sich einer sehr einfachen, aber gut eingesetzten Technik. Er fragte ins Publikum: „Wie ist das bei dir und dem, was du tust? Ist dein Equipment auf dem neuesten Stand?“
Eine Frage, die bei mir glatt ins Schwarze traf. Die Präsentationstechnik verändert sich ständig. Tatsächlich hatte ich länger nicht darüber nachgedacht, ob mal wieder ein technisches Update nötig wäre. Schon war ich ganz bei der Sache und gespannt auf den nächsten Impuls, der mich ebenso direkt betreffen könnte.
Viele glauben, Humor sei ein Imperativ fürs Reden. Durch diesen Irrglauben stolpert man leicht über erzwungene Pointen, die nicht zum Redner passen. Humor ist zweifellos eine großartige rhetorische Qualität – wenn man denn eine humorvolle Persönlichkeit ist. Nicht jeder ist das, und nicht jeder muss es sein. Humor ist keine notwendige Eigenschaft einer guten Rede – er ist eine wirkverstärkende Option für diejenigen, die diesen Charakterzug in sich tragen.
Sven Fischer gehört zu diesen Rednern und macht sich das auf geschickte Weise zunutze, nämlich durch sehr sympathieförderndes humoristisches Understatement. Auch hier ein Beispiel aus dem Vortrag: Niemand würde einen Spitzensportler wie ihn als zimperlichen Typen verdächtigen – und große Bescheidenheit ist wohl auch nicht das erste, was wir von einem Weltmeister erwarten. Genau deshalb war es so witzig, wie der Biathlet von seinen Anfängen berichtete: Er hatte zunächst als Langläufer begonnen, bis ein Trainer auf ihn zukam und ihn fragte, ob er sich nicht einmal am Biathlon versuchen wolle. Worauf Fischer erwiderte: „Nee, ich trau mich die Schanze nicht runter!“
Storytelling ist die wohl effektivste rhetorische Methode, damit die Zuhörer einen Draht zur Rednerpersönlichkeit aufbauen. Eine klassische Storytelling-Technik, die sich sehr gut eignet, um Spannung aufzubauen, ist der Kampf.
So berichtete der Sportler von einer schweren Knieverletzung, die 1989 seine Karriere auszubremsen drohte. Die Prognose der Ärzte klang übel: „Sei froh, wenn du wieder richtig laufen kannst“, wurde ihm damals gesagt; „mit dem Biathlon wird das wohl nichts mehr.“ Eine sehr unerwartete Geschichte, die man in Kenntnis von Fischers Erfolgen nicht erwarten würde – ein zusätzliches Spannungselement im Storytelling.
Der Rest ist Geschichte: Fischer kämpfte sich trotz aller Prognosen mental und körperlich dennoch zurück auf die Strecke und nur wenige Jahre später bis an die Weltspitze – es war nicht das Ende, sondern der Beginn einer atemberaubenden Karriere. Ein solches Kampf-Element sorgt für einen starken Spannungsbogen, denn er zieht die Menschen förmlich in die Geschichte des Redners hinein: Niemand kann sich der Anziehung eines guten Kampfes zwischen Gut und Böse, Gewinnen und Scheitern entziehen.
Eine ergreifende Story war auch die über Fischers Mentor in der anspruchsvollen Zeit nach der Genesung und auf dem Weg in die Weltelite. Als er sich nach der Verletzung wieder zurückkämpfte, war er Mitglied des Jugendteams. Er war noch nicht für den Weltcup qualifiziert, doch genau das war sein großes Ziel. Während eines Vorbereitungstrainings war zufällig die deutsche Herrenmannschaft vor Ort, und der legendäre deutsche Biathlet Fritz Fischer fuhr auf der Loipe an ihm vorbei. Er kannte den jugendlichen Nachwuchsfahrer bis zu diesem Zeitpunkt nur deshalb, weil er denselben Nachnamen hatte. „Mensch, sag mal“, sagte der alte Fischer zum jungen Fischer, „was hast du denn da für Skier? Das ist ja eine Katastrophe.“ – „Naja, so sind sie eben, meine Skier“, gab Sven Fischer zurück. „Da sind ja meine Trainings-Skier besser als die da“, antwortete Fritz Fischer und machte seinem Namensvetter ein Angebot: „Soll ich dir die für deinen Wettkampf leihen?“ Da musste er den aufstrebenden Nachwuchsfahrer natürlich nicht zweimal fragen.
Sven Fischer gewann mit den Skiern des großen Vorbilds das Rennen zwar nicht, aber er fuhr in die Punkte – und konnte damit am Weltcup teilnehmen. Eine großartige Geschichte über die Bedeutung von Mentoren – oder auch darüber, welche große Wirkung eine kleine Geste haben kann.
Eine ganz andere rhetorische Qualität, die ich selten in dieser Ausprägung gesehen habe, ist Sven Fischers beispielhafter Einsatz von Requisiten. Selbst weniger sportinteressierte Zuhörer konnten am Tegernsee gar nicht anders, als von den besonderen Artefakten fasziniert sein, die er dabeihatte.
Als er von seinen Anfängen berichtete, zeigte er uns ein ganz altes Paar Skier, mit denen er seine ersten Erfolge gefeiert hatte – für einen Biathlon-Fan ist das wie für einen Fußballfan, wenn Mario Götze den Ball hochhält, mit dem er das WM-Siegtor 2014 erzielte. Auch zeigte er Original-Zielscheiben, durch deren Anblick sich erst wirklich ermessen ließ, was für meisterhafte Schützen Biathleten sind: Die Papierscheiben sind winzig in Anbetracht der Entfernungen, aus denen geschossen wird! Solche Zusammenhänge kann man als Redner erläutern, wie man will – die abstrakte Maßangabe verblasst in ihrer Wirkung gegen die Requisite. Eindrücklich auch der Effekt, als Fischer die Krücken zeigte, auf denen er während der besagten Verletzungsphase laufen musste – ohne zu wissen, ob er je wieder professionell auf Skiern würde stehen können.
Hinzu kommt, dass Fischer seine Requisiten extrem konsequent einsetzt: einmal eingeführt, nutzt er geschickt ihre Präsenz im Raum, zeigt darauf, hebt sie hoch, spielt mit ihrer Wirkung. Er feiert diese Demonstrationen regelrecht. Das ist ein sehr geschickter Schachzug, weil solche Bilder sehr gut im Gedächtnis bleiben und darüber hinaus einfach Spaß machen. Auch damit baut der Redner Brücken in die Gefühls- und Gedankenwelt seiner Zuhörer.
Fischer erwies sich auch als Meister der treffenden Analogie – in der Welt des Sports bekanntermaßen eine knifflige Angelegenheit. So ist es für uns Nichts-Leistungssportler extrem schwer uns vorzustellen, unter welchem mentalen Druck man in der Weltelite steht.
„Ein Fehlschuss“, malte Fischer ein leicht nachvollziehbares Bild, „ist als wenn man geblitzt wird. Wenn du geblitzt wirst, hast du erst mal ein ganz furchtbares Gefühl.“ Aber, so Fischer weiter, das musste er natürlich unterdrücken oder kontrollieren, denn er musste ja weiterschießen. Und der nächste Schuss zählte nun umso mehr.
Einen Fehlschuss zu erleiden, kann sich wohl keiner von uns wirklich vorstellen – das Gefühl geblitzt zu werden kenne ich für meinen Teil dagegen sehr gut …
Was mir in der Gesamtschau auf die Rede ebenfalls in Erinnerung blieb ist, wie bescheiden Sven Fischer sich trotz seiner immensen Erfolge gab. Die meisten Gewinner-Geschichten, die er am Tegernsee erzählte, waren nicht seine eigenen, sondern die anderer Profis. Dieses sympathische Understatement würde ich mir offen gesagt auch von manchem Redner wünschen, der noch keine olympische Medaille gewonnen hat.
Bescheidenheit zieht Armut an, habe ich Kollegen schon behaupten hören. Ich bin da ganz anderer Meinung: Bescheidenheit ziert den Redner, denn sie ist ein Indikator für Substanz. Das hat übrigens auch schon Cicero in seinen Ausführungen über das Ethos des Redners betont: Mit einem Redner, der sich auf Augenhöhe mit seinen Zuhörern zeigt, fühlt sich das Publikum wohler. Das zeigen gerade die Beispiele manch anderer Ex-Sportler als Redner, die mich als Zuhörer mit ihrer inszenierten Aura der Unbesiegbarkeit eher abschrecken.
Mit Abgehobenheit bewirkt ein Redner genau das Gegenteil dessen, was Sven Fischer mit seinem sorgfältig geplanten und praktizierten Arsenal von rhetorischen Brücken erreicht: Nähe, die Inhalte auf mehreren Ebenen erfahrbar und einprägsam macht.
Der Vortrag von Sven Fischer am Tegernsee enthielt eine ganze Reihe von eindrucksvollen Impulsen für Relevanz durch Persönlichkeit:
Zum Schluss ein Bonus-Tipp: Am Auftritt von Sven Fischer fiel mir noch etwas auf, das einen ganz anderen Bereich rhetorischen Stärke berührt: die Tugend des ausdauernden Trainings. Am Ende des Vortrags hatte ich keinen Zweifel daran, wie akribisch Sven Fischer sich auch auf diese Aspekte seiner Redner-Tätigkeit vorbereitet haben muss. Die ganze Zeit über hielt er das Mikrofon im selben Abstand von seinem Mund – ein Zeichen für einen Vollprofi. Von dieser ganzheitlich über alle Rede-Aspekte hinweg praktizierten Disziplin kann sich jeder Redner eine Scheibe abschneiden. Nicht nur, weil wir dadurch auf der Bühne sicherer werden – sondern auch, weil wir den Zuhörern damit einen großen Gefallen tun. Denn die spüren den Unterschied, auch wenn sie nicht immer genau wissen, warum.
(Bildquelle: svenfischer.info)
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