Die Würde der Meinungsfreiheit ist unantastbar
Eigentlich ist Angela Merkel schon dafür zu beglückwünschen, dass sie sich das Gähnen verkneifen konnte. So abgedroschen ist der Rückgriff auf Artikel 1 des Grundgesetzes durch Populisten inzwischen:
„Die Grundrechte sind zurzeit massiv eingeschränkt. Artikel 1 Grundgesetz: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar.‘ So sollte es sein. Dieses Recht hat man allerdings verwirkt, wenn man sich zurzeit in Deutschland offiziell zur AfD oder als Patriot bekennt. Das will ich hier mal offen sagen. Unsere … Die Pressefreiheit ist zurzeit nicht gegeben. Wir haben eine Propaganda-Presse. Die DDR wäre blass, die würde vor Neid erblassen. Unsere Grundrechte, Meinungsfreiheit, als AfD-Mitglied ist das auch nicht gegeben.“
Mit diesen und weiteren ähnlich lautenden Vorwürfen sah die Kanzlerin sich beim Bürger-Dialog in Stralsund im August dieses Jahres konfrontiert. Ausdruckslos, aber aufmerksam hörte sie zu, bis der AfD-Lokalpolitiker seinen Platz wieder einnahm – in der ersten Reihe des Saales wohlgemerkt, auf Augenhöhe und nur wenige Meter vom Podium entfernt. Niemand unterbrach ihn, niemand drehte ihm das Mikro ab, niemand schränkte seine Redefreiheit ein. Wie genau dieser Auftritt des Kreistags-Abgeordneten mimt seinen Behauptungen unter einen Hut zu bringen wäre, in einem offenen Dialogformat vor laufenden Kameras, hätte sich trefflich diskutieren lassen.
Es wäre ein leichtes gewesen, den Angreifer in einer Diskussion darüber verbal zu entwaffnen und seine Behauptungen eine nach der anderen mit Fakten zu widerlegen. Doch dann hätte er genau das bekommen, was er wollte: eine Diskussion über die Meinungsfreiheit, die den Eindruck vermittelt hätte, als ob diese tatsächlich diskutabel sei.
Ist sie aber nicht. Sie ist im Artikel 5 des Grundgesetzes klar geregelt – für alle, AfD-Kreistagsabgeordnete eingeschlossen. Weshalb Angela Merkel eine andere rhetorische Strategie wählte – und sie tat gut daran.
Warum man manchmal lieber nicht diskutiert
Zwar wies die Kanzlerin den Abgeordneten darauf hin, dass seine Wortmeldung ihm doch selbst als ein gutes Zeichen für den Zustand der Meinungsfreiheit erscheinen müsse. Doch dann wechselte sie rasch auf eine andere Bedeutungsebene.
Warum? Die Antwort auf diese Frage hängt damit zusammen, wie Relevanz in öffentlichen Debatten entsteht, und in der Kommunikation überhaupt. Denn sie ist in hohem Maße an den Ausgangspunkt der Beteiligten geknüpft. So sehr wir uns in schwierigen Gesprächen und politischen Debatten manchmal auch wünschen, andere mögen uns doch verstehen: 1 und 1 ergibt nicht zwingend für jeden Menschen 2, wie Comedian Dieter Nuhr einmal treffend festgestellt hat.
Ideologische Blasen meiden
Um sich ernsthaft auf eine Diskussion mit dem Abgeordneten einzulassen, hätte die Kanzlerin etwas tun müssen, das sie tunlichst unterließ: Sie hätte sich in seine ideologische Blase begeben, seine Sprache sprechen und sich in seine Motive hineinversetzen müssen. In vielen Gesprächssituationen wäre all das eine gute Idee, ein Gebot des Respekts sogar, um einen relevanten Austausch zu führen und in beiderseitigem Einverständnis zu einer Lösung zu kommen.
Nur nicht im Gespräch mit Fanatikern. Die wollen nämlich gar keine Brücken bauen.
Deeskalieren mit Respekt
Umso smarter war es von Angela Merkel, einleitend zu ihrer Antwort Respekt zu zeigen – mit demonstrativer Höflichkeit. Diese Strategie nimmt vielen Angriffen bereits den Wind aus den Segeln, weil ein aggressiver Gesprächspartner einfach nicht damit rechnet. Die Kanzlerin machte den Abgeordneten darauf aufmerksam,
„dass Sie hier das sagen können und dass ich selbstverständlich auch auf Ihre Frage antworte.“
Damit gab Angela Merkel ihrem Gegenüber genau das, was er zuvor so vehement eingefordert hatte: Sie wahrte seine Menschenwürde, indem sie einen gemeinsamen Nenner etablierte. In den meisten Gesprächen ist das ohne weiteres möglich und immer eine gute Idee, wenn eine Diskussion ins Stocken gerät. Aber in einem Gespräch mit jemandem, mit dem es inhaltlich keinen gemeinsamen Nenner gibt? Reife Leistung! Wie stellte sie das an?
Wenn es auf der Sachebene keinen gemeinsam Relevanzkern gibt – dann findet er sich woanders! Die Kanzlerin erklärte Ihrem Gegenüber, es gebe
„Schranken der Meinungsfreiheit – dann nämlich, wenn es die Würde anderer Menschen in Gefahr bringt. Das ist aber, glaube ich, unter uns jetzt auch mal unstrittig.“
Mit dieser Strategie gelang Merkel ein Kunststück: Sie ließ dem Angreifer seine Meinung, ohne ihm auch nur im Ansatz zuzustimmen. Gelingen konnte diese deeskalierende Strategie, indem sie das Spielfeld wechselte:
„Über die Frage, wer das Volk vertritt, wer Patriot ist, da gibt es halt unterschiedliche Meinungen. Da glauben Sie, dass Sie das sind, da glaube ich, dass ich genauso Teil des Volkes bin, und das ist die Pluralität unserer Gesellschaft.“
Spannend ist an dieser Äußerung nicht nur, dass es sich um unterschiedliche Meinungen handelte und dieser Widerspruch unaufgelöst stehenbleiben konnte. Noch interessanter ist, dass die Kanzlerin den AfD-Vertreter mit ihrem Verhalten widerlegte statt mit Argumenten.
Sie wusste: Eine inhaltliche Auseinandersetzung konnte nur im Streit enden, weil ihr Gesprächspartner gar nicht an einer Einigung interessiert war. Für Fanatiker heißt Meinungsfreiheit, dass ihre Meinung zu gelten hat. Ihnen zu widersprechen heißt in ihrer Welt, die Meinungsfreiheit zu verletzen.
Wie aber will man mit jemandem diskutieren, der nicht ans Diskutieren glaubt?
Das Spielfeld wechseln
Die Kanzlerin tat genau das Richtige. Sie bewegte sich höflich, aber bestimmt auf ein anderes Feld, auf dem es eine geteilte Relevanz gab: den kleinsten gemeinsamen Nenner als Vertreter des Volkes. Leicht wird es ihr mutmaßlich nicht gefallen sein. Aber auf diese Weise konnte sie im Kontakt, in der Kommunikation bleiben und ihre Bereitschaft demonstrieren, eine Brücke zu bauen.
Indem sie dem Angreifer seine Meinung ließ, widerlegte sie ihn ganz ohne Diskussion. Sie stellte eine Verbindung in dem gemeinsamen Wirkungsfeld her, in dem die beiden sich in diesem Moment aufhielten – und distanzierte sich damit zugleich von dem argumentativen Feld, auf das ihr Gegenüber sie zu ziehen versuchte. Kein Gegenangriff, keine Verteidigung, keine Diskussion – nur ein gemeinsamer Nenner. Mehr geteilte Relevanz ist manchmal eben einfach nicht drin, und einfach nicht sinnvoll.
In kontroversen Gesprächsrunden, in Talkshows, in Podiumsdiskussionen, aber auch am Stammtisch oder unfreiwillig im Bahnabteil finden wir uns manchmal in Gesprächssituationen wieder, in denen eine Einigung einfach nicht realistisch ist. Das passiert zum Beispiel, weil der Gesprächspartner nicht diskutieren, sondern sabotieren will – oder weil es einfach keine Schnittmenge gibt, auf der sich aufbauen ließe. In solchen Situationen ist es oft besser, keine Einigung erzwingen zu wollen und sich gar nicht erst auf einen inhaltlichen Schlagabtausch einzulassen. Stattdessen ist es sinnvoller, auf der Basisebene des horizontalen Respekts stehenzubleiben.
Auf diese Weise kann man der Falle entgehen, mit jemandem diskutieren zu müssen, der gar nicht an einer Einigung interessiert ist. In solchen Gesprächen gibt es auf der Sachebene nämlich gar nichts zu klären – keine Relevanz, nirgends.
Praxistipps: Mit Fanatikern reden
Fassen wir noch einmal zusammen, wie die Kanzlerin die Konfrontation mit dem Fanatiker entschärfte:
- Respekt zeigen, indem man den anderen ernst nimmt,
- einen gemeinsamen Nenner auf einem anderen Spielfeld etablieren und
- die unterschiedlichen Meinungen stehenlassen.
Das ist eine bittere Pille, die wir in einer pluralistischen Gemeinschaft leider schlucken müssen: Wir können Brücken bauen – doch wir können uns nicht immer darauf verlassen, dass der andere auch darüber geht.
Machen Sie sich selbst ein Bild: Den Auszug aus dem Bürger-Dialog in Stralsund – einschließlich der Wortmeldung des AfD-Vertreters – können Sie hier anschauen.
(Bildquelle: pixabay.de)