Wie man mit Worten ein Vermächtnis formt
Wenn Angela Merkel in diesen Tagen eine Rede hält, steht sie dabei unter besonderer Beobachtung – mehr noch als sonst. Erstens kann jede große Rede jenseits des Tagesgeschäfts ihre letzte als Kanzlerin sein. Wenn die Rede zweitens in den USA stattfindet, erwarten nicht zuletzt die Amerikaner selbst von der deutschen Kanzlerin klare Worte in Richtung Donald Trump. Immerhin hat Merkel in der jüngeren Vergangenheit bereits mehrfach durch erfrischend un-trumpige, nämlich faktenorientiert klare Rhetorik von sich Reden gemacht. Wenn es sich drittens noch um eine Abschlussrede vor Absolventen einer Elite-Universität handelt, spitzt ein noch viel größeres Publikum die Ohren. Schließlich nehmen bedeutende Persönlichkeiten des Weltgeschehens – von Steve Jobs bis Michelle Obama – diese Bühne traditionell zum Anlass, um ihr rhetorisches Vermächtnis zu zementieren.
Als Angela Merkel am 31. Mai 2019 vor den Abschlussjahrgang der Harvard-Universität tritt, ist die Erwartungshaltung deshalb hoch. Die Rede, die dann folgt, wird dem Anspruch gerecht: Merkel schafft es – wie vor ihr bereits Barack Obama und Emanuel Macron – nicht nur, klare Worte an Donald Trump zu richten, ohne seinen Namen auch nur zu erwähnen. Tatsächlich formt sie mit ihren Worten vor den Augen der Weltöffentlichkeit ein politisches Vermächtnis. Verschiedene rhetorische Strategien verbinden sich zu einer für ihre Verhältnisse geradezu mitreißenden Rede, die das Zeug hat zu bleiben.
Wie formuliert man ein Vermächtnis so, dass es Resonanz erzeugt, und transportiert dabei eine klare Botschaft? Betrachten wir an einigen Beispielen aus der Rede, welche rhetorischen Mittel Angela Merkel eingesetzt hat.
- Persönlichen Bezug herstellen
Merkel steigt mit einem Klassiker in ihre Rede ein: Sie beginnt mit einem Literaturzitat von Hermann Hesse. „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“ Kein spektakulärer Einstieg, doch Merkel nutzt das Zitat sehr geschickt: Es dient ihr dazu, eine persönliche Verbindung mit ihrem studentischen Publikum vor Ort herzustellen, an das die Rede sich in erster Linie richtet. „Diese Worte Hermann Hesses haben mich inspiriert, als ich mit 24 Jahren mein Physik-Studium abschloss.“
Mit diesem Bezug stellt Merkel, die Mächtige, Augenhöhe mit den jungen Menschen her: Auch ich war einmal genau an dem Punkt, an dem ihr jetzt seid. Damit bereitet sie nicht nur geschickt die biografische These vor, die sie später formulieren wird; sie überbrückt damit vor allem die Distanz zwischen Rednerin und Publikum.
Die ist auf dem Papier schließlich gewaltig: Die deutsche Kanzlerin und ihre Zuhörer trennen Generationen, Kontinente und Kulturen. Indem sie jedoch die Gemeinsamkeiten hervorhebt, stellt sie einen Draht her: Ich kenne die hoffnungsvolle Erwartung, die ihr jetzt spürt, die Freude über die Möglichkeiten, aber auch die Sorge über äußere Grenzen.
- Kontextualisieren durch Storytelling
Indem sie dafür gesorgt hat, dass die Zuhörer sich mit ihr identifizieren, hat Merkel bereits den Grundstein für ihren nächsten rhetorischen Schachzug gelegt. Um der Botschaft den Boden zu bereiten, stellt sie sich selbst als junge Absolventin in den Kontext einer großen Geschichte: den Kalten Krieg, den sie in der DDR miterlebte.
„Die Welt war geteilt in Ost und West. […] Ich bin in Ostdeutschland aufgewachsen, in der DDR, dem damals unfreien Teil meines Heimatlandes, in einer Diktatur. […] Die Regierung der DDR hatte Angst, dass das Volk weglaufen würde in die Freiheit. Deshalb hat sie die Berliner Mauer gebaut.“
Mit dieser Kontextualisierung schafft sie bei den Studenten ein Gefühl dafür, dass auch sie mit ihrer Zukunft im Zusammenhang eines größeren Narrativs stehen, das von vergleichbaren Herausforderungen und Gefahren für die Freiheit geprägt ist. Auch sie haben die Möglichkeit, mitzugestalten, statt nur dabei zu sein: „Sie gehören zu denjenigen, die uns in die Zukunft führen werden.“
Eine solche These ist leicht dahingesagt, bleibt aber abstrakt, wenn sie nicht nachvollziehbar untermauert ist. Durch die biografische Erzählweise wird dieser Graben überwunden.
- Anschaulich sprechen
Mit der Erwähnung der Berliner Mauer führt Merkel auch ihre zentrale Bilderwelt ein, auf die sie im Laufe der Rede immer wieder zurückkommt: Mauern. Es kommt kein Zweifel daran auf, dass sie damit auf die Mauerbau-Pläne von Donald Trump verweist, denn sie wird sehr konkret in ihrer Metapher: „Sie war aus Beton und Stahl.“
Auch die übrige Rede enthält zahlreiche Metaphern und Analogien. So beschreibt sie ihren Heimweg von der Arbeit als junge Physikerin mit den Worten: „Auf meinem Heimweg vom Institut ging ich täglich auf sie [die Mauer, Anm. d. Verf.] zu. Jeden Tag musste ich kurz vor der Freiheit abbiegen.“ Die Mauer-Metapher kehrt beständig wieder, etwa als „Mauern in den Köpfen, aus Ignoranz und Engstirnigkeit“.
Im Sinne des Narrativs von Gut und Böse, Frei und Unfrei in ihrer Geschichte wählt Merkel erkennbar kontrastreiche Bilder. So stellt sie die „dunkle Wand“ und die „offene Tür“ direkt gegenüber. An anderer Stelle kontrastiert sie „die Grenze“ und „das Offene“.
Im Verlauf der Rede beschreibt Merkel weiter, wie sie den Fall der Mauer erlebte, und tastet sich über Parallelen zur heutigen Weltlage nach und nach in die Gegenwart und schließlich in die Zukunft vor. Immer wieder benennt sie dabei ganz konkrete Alternativen: Negative Begriffe und Entwicklungen der Gegenwart begegnet sie mit konstruktiven Ideen in positiven Worten: „Wertegemeinschaft“ statt „Nationalismus“, „zusammen“ statt „allein“, „Offenheit“ statt „Protektionismus“.
- Biografische These ableiten
All diese Fäden – die Identifikation, die Kontextstory, die positive Bildlichkeit – führt Merkel schließlich in einer Kernbotschaft zusammen, die sie entlang des roten Fadens konsequent aus ihrer eigenen Geschichte ableitet: „Vor 30 Jahren habe ich ganz persönlich erlebt, dass nichts so bleiben muss, wie es ist. […] Was festgefügt und unveränderlich scheint, das kann sich ändern.“
An dieser Stelle erhält die Kanzlerin den ersten Szenenapplaus, denn hier ist der Bezug zur Gegenwart unverkennbar: Angesichts von Nationalismus, Protektionismus, dem Erstarken rechter Kräfte und sogar Machtübernahmen durch Populisten in einigen Teilen der Welt ist es leicht, dem Pessimismus zu verfallen und in Verdrossenheit zu versinken. Auch in den USA wächst die Sorge, dass die Amtszeit von Donald Trump in die zweite Runde gehen könnte.
Durch ihre persönliche Geschichte kann Merkel ihr zentrales Anliegen in dieser Gemengelage glaubwürdig vertreten: Es ist eine Botschaft der Veränderbarkeit, an die viele Menschen mit ihren Hoffnungen andocken können.
Mit dieser optimistischen Kernbotschaft stellt Merkel sich in die Tradition ihrer wohl bekanntesten und gleichzeitig umstrittensten Aussage „Wir schaffen das“, die sie im Zuge der Rede ebenfalls umschreibt: „Mauern können einstürzen, Diktaturen können verschwinden, wir können die Erderwärmung stoppen, wir können den Hunger besiegen, wir können Krankheiten ausrotten, wir können den Menschen und insbesondere den Mädchen Zugang zu Bildung verschaffen, wir können die Ursachen von Flucht und Vertreibung bekämpfen, das alles können wir schaffen.“ Diese Kontinuität stärkt ihre Wirkung als Rednerin zusätzlich, denn der mutige Rückbezug stellt Resonanz her bei denen, die sich erinnern.
Doch Merkel geht über den Historismus hinaus und blickt in die Zukunft. Von ihrer Botschaft der Machbarkeit schließt sie auf die individuelle Verantwortung. Sofort stellt sie konkrete Maßnahmen in den Raum. Beim Thema Digitalisierung appelliert sie an das Verantwortungsgefühl ihrer jungen Zuhörer, die die neue Ära gestalten werden. Und dann geht sie mit gutem Beispiel voran, indem sie sich – als scheidende Kanzlerin – ein konkretes politisches Ziel als persönliches Vermächtnis auf die Fahne schreibt: „Ich werde mich mit ganzer Kraft dafür einsetzen, dass Deutschland, mein Land, im Jahr 2050 das Ziel der Klimaneutralität erreichen wird.“
- Schöne Worte finden
Ein weiteres Merkmal der Rede stützt den Eindruck, dass die Kanzlerin hier möglicherweise ein Vermächtnis formuliert: Der Wirkungsästhetik des Manuskripts wurde erkennbar große Beachtung geschenkt, um die Relevanz der einzelnen Aussagen zu steigern. Merkel wählt auffallend schöne Worte und Sätze – eine rhetorische Tugend, für die sie mit ihrem oft recht spröden Redestil eher nicht bekannt ist.
Am eindrucksvollsten ist die geradezu poetische Version ihrer Kernbotschaft, die sie bis ins Finale der Rede mitnimmt: „ins Offene gehen“. Merkel legt Wert darauf, jedes Mal aufzuschauen und den Blickkontakt mit dem Publikum zu suchen, wenn sie diese Worte sagt. Sie wiederholt sie, als sie erklärt, dass man sich der Ungewissheit stellen muss, um Fortschritt zu erzielen. Sie wiederholt sie sogar, als sie von den Risiken spricht, vor denen die Absolventen auf ihrem weiteren Weg stehen.
Von ähnlicher ästhetischer Kraft sind ihre Schlussworte in Anspielung auf ein Gorbatschow-Zitat, die sie den Studenten auf Englisch zuruft: „Reißen Sie Mauern der Ignoranz und Engstirnigkeit ein, denn nichts muss so bleiben, wie es ist.“
Die Schönheit dieser Worte ist stark genug, um ihre Botschaft der Veränderbarkeit auch durch eine differenzierte, beschönigungsfreie Betrachtung zu tragen. Das ist die Kraft der Sprache in der Rhetorik: Schöne Worte machen jede Botschaft relevanter.
Lehren aus Merkels Harvard-Rede: Wie man ein Vermächtnis formuliert
- Bauen Sie dem Publikum eine Brücke, indem Sie Gemeinsamkeiten betonen.
- Stellen Sie Ihre persönliche Geschichte in den Kontext eines größeren Narrativs.
- Sprechen Sie anschaulich, indem Sie kontrastreiche Bilder gegenüberstellen.
- Leiten Sie Ihre Kernbotschaft mit Identifikationsfaktor aus ihrer Geschichte ab.
- Verleihen Sie zentralen Aussagen mehr Wirkung, indem Sie schöne Worte wählen.
Bonus-Strategie: Populismus-Killer Sachlichkeit
Bleibt die Frage: Wie ist es Merkel gelungen, dem amerikanischen Präsidenten eine klare Botschaft zu senden, ohne ihn auch nur zu erwähnen? Die Antwort könnte deutscher nicht sein: durch erfrischende Sachlichkeit. Sie formuliert sogar eine klare rhetorische Forderung zum Umgang mit diesem Trend, ohne sich offen an oder gegen Trump zu wenden. Sie erhält tosenden Szenenapplaus, als sie vorschlägt, dass wir „bei allem Entscheidungsdruck nicht immer unseren ersten Impulsen folgen, sondern zwischendurch einen Moment innehalten, schweigen, nachdenken, Pause machen. […] Dazu gehört, dass wir Lügen nicht Wahrheiten nennen, und Wahrheiten nicht Lügen.“
Merkels Kommentar zur Politik des US-Präsidenten ist dementsprechend klar in der Sache, aber respektvoll im Ton. Sie vermeidet den persönlichen Angriff, positioniert sich aber unmissverständlich auf der Sachebene: „Protektionismus und Handelskonflikte gefährden den freien Welthandel und damit die Grundlagen unseres Wohlstands. […] Veränderungen zum Guten sind möglich, wenn wir sie gemeinsam angehen. In Alleingängen wird das nicht gelingen. […] Mehr denn je müssen wir multilateral statt unilateral handeln.“
Der Kontrast zur Haltung Donald Trumps in zentralen Fragen wie internationaler Zusammenarbeit und Klimaschutz könnte deutlicher nicht sein. Doch Merkel positioniert sich betont aggressionsfrei und argumentiert sachlich und konsensorientiert. Mit anderen Worten: Sie spricht so un-trumpig, wie es nur möglich ist.
Den Tagesschau-Stream der gesamten Rede (Deutsch mit amerikanischer Synchron-Dolmetscherin) können Sie hier anschauen.
(Bildquelle: Screenshot https://www.youtube.com/watch?v=UOuFYsbBRqw)