Schrille Post
Wie Botschaften verfälscht werden und was Sie dagegen tun können
Jeder kennt den Stille-Post-Effekt: Von einer mündlich übermittelten Botschaft sei nach ein paar Wiederholungen durch andere oft nur noch Blödsinn übrig, heißt es. Aber gibt es dieses oft scherzhaft zitierte Phänomen wirklich? Wie Forscher nachgewiesen haben, ist es nicht nur real, sondern auch noch erschreckend effektiv. In diesem Fachartikel gebe ich Tipps, wie Sie Ihre Aussagen vor dem Verfall retten können.
- Wenn Sie es bisher schon manchmal schwierig fanden, mit Ihren Worten zu anderen durchzudringen – warten Sie ab, bis Sie diesen Beitrag gelesen haben. Einer Botschaft die richtige Form zu geben, mit den richtigen Argumenten in der richtigen Struktur zum richtigen Zeitpunkt beim richtigen Adressaten das richtige Bedürfnis anzusprechen und die richtige Emotion auszulösen ist zwar kein Hexenwerk – will allerdings gelernt und vor allem geübt sein. Schnell ist es passiert, dass unsere Worte beim anderen ganz anders ankommen, als wir es beabsichtigt hatten, weil wir uns nicht optimal ausgedrückt haben.Setzen wir mal voraus, Sie haben das im Blick und Ihre Gespräche im Großen und Ganzen im Griff, weil Sie sich mit Ihrer Kommunikation beschäftigen. Damit schließen Sie viele Störfaktoren im Alltag schon mal aus oder reduzieren sie wenigstens – nämlich die, die Sie selbst beeinflussen können. Eine Variable bleibt leider trotzdem: Für jede Botschaft gibt es einen Sender und einen Empfänger. Selbst wenn Sie rhetorisch versiert sind, sind Sie nicht vor dem gefeit, was andere aus Ihren Aussagen machen.Dass es Menschen gibt, die Ihnen gezielt die Worte im Mund umdrehen, lässt sich nur bedingt verhindern. Viel häufiger kommt es allerdings vor, dass Ihre Aussagen unbewusst verfälscht werden, während sie die Runde im Unternehmen, in der Familie oder im Internet machen. Dann schlägt nämlich der Stille-Post-Effekt zu: Jemand hört nicht richtig hin oder versteht nicht das, was Sie sagen wollten – sondern das, was er gehört hat oder hören wollte. Was gibt er weiter? Natürlich letzteres. Sein Empfänger tut dasselbe nun wiederum mit dem nächsten, dem er die Aussagen weiterreicht, und so weiter. Wo eben noch eine klare Aussage war, herrscht plötzlich Verwirrung.Nicht nur in Dialogen geschieht das. Auch im Internet wirkt das Phänomen bei Debatten als Brandbeschleuniger, wenn Menschen versehentlich oder absichtlich falsch zitiert oder ihre Argumente verfälscht werden. Die schrille Post kommt überall an! Experiment mit verblüffendem Ausgang: Der Stille-Post-Effekt ist real
Wie dramatisch sich der Stille-Post-Effekt auswirken kann, haben Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung mit einem Experiment nachgewiesen. Die Teilnehmer der Studie lasen zunächst einen Text über die Nebenwirkungen von Triclosan – einer Chemikalie, die zum Beispiel in Zahnpasta und Waschmittel enthalten ist. Anschließend gab jeder Teilnehmer mündlich an eine zweite Person weiter, was er aus dem Gelesenen gelernt hatte. Dieser Proband sprach wiederum mit einem dritten Teilnehmer und so weiter. Derselbe Ablauf wurde jeweils wiederholt, bis eine Kommunikationskette mit durchschnittlich zehn Gliedern erreicht war.
Die Ergebnisse der Studie waren erschreckend. Die Gesprächsanalysen ergaben, dass der Großteil der im ersten Dialog erwähnten Einzelheiten bis zum zehnten Glied in der Kommunikationskette verlorenging. Doch damit nicht genug: Gleichzeitig wurden von den Teilnehmern neue Details erfunden, die im ursprünglichen Gespräch (und dem Ausgangstext) überhaupt nicht vorkamen. Ursprünglich wurden insgesamt 30 Informationseinheiten vermittelt. Schon in der zweiten Runde waren davon nur noch 13 übrig. Beim letzten Austausch in der Kette wurden schließlich nur noch drei Informationseinheiten wiedergegeben – und das in verfälschter Form. Das ist ungefähr so, als hätte ein Lehrer dreißig Kinder in seiner Klasse, könnte aber nur drei davon mit Namen ansprechen – und zwar mit dem falschen.
Leider ist das noch immer nicht alles, was der Stille-Post-Effekt anrichtet. Das Experiment bewies ebenfalls, was sich jeder denken kann, der im Internet unterwegs: Menschen haben einen Hang zu Negativen. Die Probanden der Studie betonten eher die negativen Aspekte, wenn sie das Gehörte weitergaben, während sie die positiven eher in abgeschwächter Form kommunizierten. Ob jemand seiner Wiederholung eine positive oder negative Tendenz gab und in welcher Ausprägung, hing laut den Forschern von seiner eigenen Risikowahrnehmung ab – und natürlich von der Wertung, die der Absender vermittelt hatte, von dem er die Informationen bekommen hatte.
Die Ergebnisse dieser Studie zeigen: Der Stille-Post-Effekt ist nicht nur real, sondern sehr effektiv. Und das Schlimmste daran ist, dass die Interpretationen, Motive und Wertungen anderer oft nur bedingt mit den ursprünglichen Aussagen zu tun haben.
Was diese Erkenntnis für Ihre Kommunikation bedeutet
Was bedeuten diese verblüffenden Erkenntnisse für Ihre eigene Kommunikation? Die konkreten Auswirkungen hängen natürlich davon ab, in welchen Kontexten Sie kommunizieren und wie kritisch die Informationen sind, um die es geht.
In der Familie und unter Freunden sind die Kommunikationsketten in der Regel recht überschaubar. Sagen wir, Sie bitten Ihr Kind am Telefon, Ihrer Frau auszurichten, dass Sie auf dem Heimweg vom Büro noch schnell beim Angelladen vorbeischauen. Wenn das vom Fernseher abgelenkte und ichthyologisch desinteressierte Kind dabei eine Silbe überhört und der Mama mitteilt, dass Sie nach der Arbeit erst mal zu Angela fahren, könnte das zwar zu unangenehmen Missverständnissen führen. Die werden im Normalfall aber schnell durch klärende Rückfragen ausgeräumt sein, und auch die Quelle der Fehlinformation ist schnell gefunden.
Bei längeren Kommunikationsketten, wie sie sich in Nullkommanichts über die Büroflure eines Unternehmens bilden, sieht das schon anders aus. Nehmen wir an, Sie erwähnen einem Kollegen gegenüber im Vertrauen, dass Sie sich demnächst intern neu bewerben wollen. Da braucht es selbst in einem durchschnittlich intriganten Unternehmen nicht viele Reibungsverluste, damit Ihr Vorgesetzter sich plötzlich sehr konkret von Ihnen bedroht fühlt. Je nachdem, ob er zur direkten oder indirekten Kommunikation neigt, kann das alle möglichen Folgen für Sie haben – von einem offenen Gespräch (der beste Fall) bis hin zum Abzug aus allen wichtigen Projekten. Dass Sie sich eigentlich auf einen Posten in einer ganz anderen Abteilung bewerben wollten, ist nämlich leider nicht bis zu ihm durchgedrungen …
Wenn der Stille-Post-Effekt in gesellschaftlichen Debatten zuschlägt, wird es besonders schnell besonders wirr. Denn Debatten werden heute vor allem im Internet und bevorzugt in Social Media geführt. Da nehmen die Kommunikationsketten in kürzester Zeit Ausmaße an, für die weder unsere Sprachmuster noch unsere Gehirne ursprünglich mal ausgelegt waren. Entsprechend hilflos nehmen wir zur Kenntnis, wenn selbst glasklare Expertenzitate sich verselbstständigen wie der Inhalt Ihres Mixers, wenn Sie vergessen haben, den Deckel zu schließen. Die Informationsspritzer fliegen unkontrolliert überallhin – im Zweifel durchs offene Fenster ins Auge eines vorbeifliegenden Spatzen, der daraufhin in wildes, unsachgemäßes Twittern verfällt. Später kann keiner mehr nachvollziehen, wo die Spritzer ursprünglich herkamen; geschweige denn, dass sie mal zu einem völlig korrekten Smoothie gehörten.
Kein Zweifel also: Mit dem Stille-Post-Effekt ist nicht zu spaßen. Doch zum Glück lässt sich einiges dafür tun, Ihre Aussagen vor Verfall und Verfälschung zu retten.
5 Maßnahmen gegen den schleichenden Botschaftstod
Um dem Stille-Post-Effekt soweit wie möglich vorzubeugen, wollen Sie Ihre Botschaften möglichst unverfälscht und vollständig im Gedächtnis anderer verankern. Dabei helfen die folgenden fünf Maßnahmen wirkungsvoller Rhetorik. Alle sind auf die meisten Kommunikationsanlässe anwendbar – vom Dialog über die Produktpräsentation bis zum Social-Media-Post.
- Nicht zu viel sagen: Je mehr Sie sagen, desto weniger klar wirken Sie. Das mag paradox klingen: 30 Argumente müssen doch mehr bewirken als drei? Leider ist das ein Trugschluss. Je mehr Sie argumentieren, desto mehr Widerstände bauen sich beim Anderen auf. Denn leider hören Menschen oft nicht zu um zu verstehen, sondern um zu erwidern. So kann es passieren, dass von vielen Argumenten gerade nicht die stärksten, sondern die schwächsten hängenbleiben. Treffen Sie besonders beim Argumentieren möglichst wenige, konkrete Aussagen und halten Sie gerade wichtige Äußerungen kurz.
- Anschaulich sprechen: Bildhafte Sprache und Vergleiche bleiben besser im Gedächtnis haften als trockene Fakten wie Zahlen oder Regeln. Das hängt mit der Arbeitsweise unseres Gehirns zusammen. Verpacken Sie Thesen oder Ideen, die die Runde machen sollen, deshalb in möglichst prägnante Metaphern oder Analogien. Eine gute Metapher zu verfälschen ist nämlich gar nicht so leicht.
- Wertungsarm kommunizieren: Gerade bei heiklen Aussagen persönlicher oder politischer Natur wollen Sie keine Missverständnisse riskieren. Doch gerade solche Botschaften bieten sich oft auch als Argumentationsmasse an, mit der andere ihre eigene Agenda verfolgen können. Wie die Max-Planck-Studie gezeigt hat, betonen Menschen negative Wertungen. Wenn absehbar ist, dass das Gespräch den Raum verlassen wird: Beugen Sie vor, indem Sie selbst möglichst wertungsfrei kommunizieren. Beschränken Sie sich gerade bei heiklen oder kritischen Aussagen so gut es geht auf Fakten und Beobachtungen, und verzichten Sie auf negative Wortwahl und Urteile.
- Aussagen spiegeln lassen: In meinen Trainings arbeite ich oft mit einem Werkzeug namens „Kontrollierter Dialog“. Vereinfacht dargestellt geht es dabei darum, dass die Gesprächspartner bei einer Diskussion erst die Aussage ihres Vorredners wiedergeben müssen, bevor sie eigene Argumente anbringen dürfen – und zwar so lange, bis dieser mit der Wiedergabe seiner Worte zufrieden ist. Für den Alltag lässt sich dieses Instrument adaptieren, indem Sie es ins Du verkehren: Lassen Sie sich wichtige Aussagen von Ihrem Gegenüber noch einmal spiegeln, bevor Sie weiterreden oder das Gespräch beenden. So können Sie ggf. noch einmal nachjustieren – wohlwollend, nicht vorwurfsvoll! Auf diese Weise können Sie sicherstellen, dass Sie richtig verstanden wurden. Kleine Vorwarnung: Ziehen Sie sich warm an, denn bei dieser Schleife erleben Sie den Stille-Post-Effekt ersten Grades am eigenen Leib.
- Aktiv zuhören: Zum Schluss noch ein Tipp, was Sie als Empfänger tun können, um nicht selbst beim Stille-Post-Effekt mitzuwirken. Denn dagegen ist keiner von uns immun. Auch wenn Sie nicht unbewusst Fakten selektieren oder eigene Wertungen einschleusen – jeder ist mal abgelenkt oder überfordert. Das beste Mittel gegen Verständnislücken ist aktives Zuhören. Suspendieren Sie innere Widerstände und Wertungen möglichst vollständig, während andere sprechen. Hören Sie zu um zu verstehen, anstatt sich bereits Erwiderungen zurechtzulegen. Machen Sie sich ruhig Notizen, wo es angebracht und praktikabel ist. Stellen Sie interessierte Rückfragen, um ein tieferes Verständnis für die gesendeten Botschaften zu bekommen. Damit zeigen Sie dem anderen, dass er gehört wird.
Tl;dr: Wie Sie Ihre Botschaften gegen den Stille-Post-Effekt konservieren
Der Stille-Post-Effekt ist kein Mythos, sondern wissenschaftlich nachgewiesen und leider äußerst effektiv. Er kann Ihre Botschaften in Stücke reißen und sie bis zur Unkenntlichkeit verfälschen. Das ist in Branchen- und Bekanntenkreisen genauso an der Tagesordnung wie in Social Media. Je länger die Kommunikationskette, desto größer der Klarheitsverlust.
Mit den Mitteln wirkungsvoller Kommunikation können Sie jedoch einiges tun, um Ihre Botschaften zu konservieren. Hier noch einmal in aller Kürze die fünf wichtigsten Strategien gegen den Stille-Post-Effekt:
- Nicht zu viel sagen – je übersichtlicher die Botschaft, desto länger ihre Halbwertszeit.
- Anschaulich sprechen: Bilder und Vergleiche bleiben besser im Gedächtnis haften als trockene Fakten.
- Wertungsarm kommunizieren: Negative Wertungen werden bei der Wiedergabe betont, positive abgeschwächt – also besser gleich weglassen.
- Aussagen spiegeln lassen: Bitten Sie Ihren Gesprächspartner zu wiederholen, was bei ihm angekommen ist, und justieren Sie ggf. wohlwollend nach
- Aktiv zuhören: Hören Sie zu um zu verstehen, nicht um zu antworten – so bekommen Sie mehr von dem mit, was andere sagen.
Quelle zur Studie: Mehdi Moussaid et al.: The amplification of risk in experimental diffusion chains. Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA 2015, online vor Print, DOI: 10.1073/pnas.1421.883112, zitiert nach: Eva-Maria Träger: Stille Post hat starke Wirkung, Psychologie heute 08/2015, S. 6