Ein Plädoyer für die Unsicherheit
Die Inspirationen am See sind eines meiner Veranstaltungs-Highlights in jedem Jahr. Einer von vielen Gründen dafür ist, dass dieses Event wirkt wie ein Prisma seiner Zeit: Hier kommen jedes Jahr wirkungsvolle Menschen mit ganz unterschiedlichen Blickwinkeln auf das zusammen, was gerade alle bewegt.
Ich übertreibe sicher nicht, wenn ich behaupte: Dieses Jahr ist für viele Menschen von Unsicherheit geprägt. Deshalb möchte ich unter den vielen wundervollen Beiträgen anlässlich der Inspirationen am See 2020 an dieser Stelle auf einen zurückblicken, der den Fokus auf dieses vieldeutige Thema gelegt hat – prüfend und heilend zugleich. Die Philosophin, Autorin und Rednerin Dr. Natalie Knapp hat mir eine neue Sicht auf die Unsicherheit in den Kopf gesetzt, und: eine neue, im besten Sinne unsichere Perspektive auf die Welt.
Dass das Thema bei mir in Resonanz geht, ist kein Wunder: Ich halte Akzeptanz für eine der wichtigsten Kompetenzen unserer Zeit. Und Akzeptanz bedeutet unter anderem: Unsicherheit aushalten und produktiv wandeln können. Vieles von dem, was in der Kommunikation passiert, hat mit Unsicherheit zu tun – und viele dieser Wirkungsmechanismen sind sehr positiv zu bewerten. Deshalb möchte ich im Folgenden die wichtigsten Impulse aus Natalie Knapps Plädoyer für die Unsicherheit an Sie weiterreichen. Wann konnten wir sie je besser gebrauchen?
Zu Göttern berufen
Aus rhetorischer Perspektive konnte mich schon die Rahmung des Themas begeistern, mit dem wir Zuhörenden abgeholt wurden: Die Philosophin erklärte uns kurzerhand zu Göttern. Wir alle hätten die Macht, der Unsicherheit ein- für allemal ein Ende zu setzen – hier und heute. Vorher allerdings, so die Rednerin, würde sie gern ein Plädoyer in Verteidigung der Unsicherheit halten.
Auf diese Weise machte die Philosophin uns zu Protagonisten ihrer theoretischen Betrachtungen. Das ist eine spannende Strategie, um die Aufmerksamkeit zu binden und eine Brücke in die Lebenswelt der Zuhörer zu bauen. Und siehe da: Keiner von uns Berufenen war im Anschluss an ihre Argumentation bereit, die im Alltag vermeintlich oft so lästige Unsicherheit abzuschaffen. Da stellt sich natürlich die Frage: Warum nicht?
Unsicherheit als Zeichen von Professionalität
Natalie Knapp lieferte mit ihren Ausführungen eine Reihe guter Antworten auf diese Frage. Eine besonders prägnante ist die Feststellung, dass Unsicherheit eine wichtige Signalwirkung hat. Weil der Begriff negativ belegt ist, räumen wir ihr nur nicht immer die gebührende Bedeutung ein – und gestehen ihr oft auch nicht den Raum zu, ihre volle Wirkung zu entfalten.
Zum Beispiel betrachtet die Philosophin Unsicherheit als Zeichen von Professionalität – ganz im Gegensatz zur verbreiteten Sorge, wir könnten schwach oder unprofessionell wirken, wenn wir zögern. Unsicherheit deutet auf eine geöffnete Wahrnehmung und eine differenzierte Sicht auf das Thema oder die Situation hin. Darüber hinaus zeigt sie Reflexionsfähigkeit an: Man ist bereit, Meinungen und Handlungsweisen zu hinterfragen.
Wer sich unsicher fühlt, hat bereits begriffen, dass es mit Routine nicht geht. Man hat erkannt, dass die verinnerlichten oder gewohnheitsmäßigen Reaktionsmuster nicht anwendbar sind. Erst diese Erkenntnis öffnet die Gedanken für neue Erfahrungen und Lösungen, ohne die es weder in der Kommunikation noch in irgendeinem anderen Feld auf Dauer Fortschritte geben kann.
Unsicherheit ist nicht Angst
Eine wichtige Voraussetzung, um die Unsicherheit als hilfreich zu akzeptieren, ist eine klare Abgrenzung zur Angst. Letztere ist evolutionär begründet und einprogrammiert. Auf eine erworbene und teils bewusst, teils unbewusst kultivierte Haltung wie die Unsicherheit hingegen haben wir durchaus einen Einfluss. Dass wir die Unsicherheit zulassen und ihr stattgeben, zeigt schon, dass sie eine andere Qualität hat als die weitaus weniger beeinflussbare Angst.
Unsicherheit sagt uns nicht, dass etwas Schlimmes passiert. Unsicherheit sagt uns erst einmal nur, dass gerade etwas Neues passiert. Der Weg endet hier nicht, nein: Der Weg, der uns durch die Situation oder auch das Gespräch hindurchführen wird, existiert nur noch nicht. Er entsteht unter unseren Füßen. Dank der Unsicherheit setzen wir vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Das ist nicht schwach oder unprofessionell; das ist klug.
Daraus ergibt sich auch der zentrale Unterschied zwischen der Unsicherheit und der Angst: die Handlungsfähigkeit. Die Unsicherheit verlangsamt das Handeln – im Gegensatz zur Angst, die es blockiert. Wir bleiben auch unter größter Unsicherheit handlungsfähig. Das zeigt sich schon daran, dass wir unter dem Einfluss von Unsicherheit nicht weniger denken, sondern mehr: Sie macht den Kopf für neue Impulse und Lösungen auf, wo die Angst uns einen Tunnelblick aufzwingt.
Der Unsicherheit durch Handeln begegnen
In dieser konstruktiven Handlungsorientierung liegt auch der zentrale Hebel, um die Unsicherheit nutzbar zu machen.
Die natürliche Reaktion und der erste Schritt ist geistiges Handeln. Sobald wir Unsicherheit empfinden, stellen wir Fragen nach der Lösung: Was kann ich tun oder – im Falle der Kommunikation – sagen, um den unsicheren Zustand in einen weniger unsicheren Zustand zu überführen? Solange die Unsicherheit anhält, erlaubt sie uns, ein Szenario nach dem anderen gedanklich durchzuspielen und gegen das Gefühl der Unsicherheit abzugleichen. Der zweite Schritt besteht darin, dass wir eine bewusste Entscheidung für eine Vorgehensweise treffen. Das ist eine Wahl, welche die Angst uns nicht lässt – und auch die Sicherheit nicht. Sicherheit lässt uns nämlich nicht nach Alternativen forschen; Unsicherheit schon. Im dritten Schritt schließlich überführen wir das geistige Handeln in praktisches Handeln. Wir betreten Neuland in relativ klarer Erwartung dessen, was uns erwartet, denn wir haben bereits verschiedene Szenarien durchgespielt.
Im Rahmen dieses Prozesses zeigt sich der ganze Wert der Unsicherheit als Haltung in der Kommunikation und im Leben: Sie gibt uns maximale Kontrolle über unser Denken und Handeln.
Unsicherheit fördert Resilienz
In dieser kontrollierten Reaktionsfähigkeit liegt schließlich auch der Grund, warum die Unsicherheit sogar langfristig vorteilhaft ist: Unser geistiges Immunsystem reagiert mit Unsicherheit auf Störungen, die wir im Zweifel meist mehr als einmal im Leben erfahren. Daraufhin bildet sie sozusagen „mentale Antikörper“ aus.
Unsere gesammelten Unsicherheiten sind deshalb wie ein Baukasten der Persönlichkeitsentwicklung. Unsicherheiten zeigen Themen an, die uns beschäftigen und an denen wir Schritt für Schritt wachsen können. Indem wir uns ihnen stellen, gewinnen wir nach und nach neue Bewältigungsmechanismen und Handlungsoptionen hinzu. So können wir auf Momente der Unsicherheit in Zukunft schneller, kontrollierter und selbstbewusster reagieren.
Die Beschäftigung mit der Unsicherheit fördert also auch unsere Resilienz – eine Eigenschaft, die im Gegensatz zur Unsicherheit bei vielen ganz oben auf der Wunschliste der persönlichen Stärken steht. Das finde ich spannend …
Gute Gründe für Unsicherheit
Im Zuge ihrer Betrachtungen gab Natalie Knapp uns schließlich eine Reihe von guten Gründe, warum Unsicherheit eine Bereicherung für unseren Alltag und für unsere Kommunikation sein kann. Die drei folgenden sind mir am stärksten im Gedächtnis geblieben:
- Unberechenbarkeit befähigt uns erst zur Hoffnung. Gäbe es keine Variablen im Alltag oder in der Zukunft, würde auch kein Raum für Entwicklung oder – in der Kommunikation – kein Raum für Fragen existieren. Wir wären in bestehenden Zuständen gefangen und hätten keinen Anlass, an eine positive Entwicklung in der Zukunft zu glauben. Wozu also lernen, wonach streben, woran glauben?
- Der Verlust der Unsicherheit würde mit einem Verlust an Freiheit einhergehen. Das Ungewisse nicht zu akzeptieren würde gleichzeitig bedeuten, den freien Willen aufzugeben. Dessen Gestaltungskraft wirkt nun mal nur da, wo es auch Spielräume für Gestaltung gibt. Nur, wenn die Zukunft ungewiss ist, können wir morgen anders handeln als heute.
- Gäbe es keine Unsicherheit mehr, verlören wir unsere eigene Schöpferkraft. Spätestens an diesem Punkt waren alle am See versammelten Kreativen und frisch berufenen „Götter“ überzeugt: Eine gewisse Unsicherheitstoleranz ist eine notwendige Bedingung für Kreativität. Etwas Neues schaffen kann nur, wer die Phasen der Ungewissheit auf dem Weg dorthin aushält.
Wenn Sie also das nächste Mal Unsicherheit verspüren, rufen Sie sich in Erinnerung, wieviel dieser Zustand für Sie tun kann!
Der größte Augenöffner in einem an Aha-Momenten reichen Vortrag war für mich, dass die Unsicherheit ein produktiver Faktor von Kommunikation sein kann. Indem sie warnt, verhindert sie; indem sie verzögert, filtert sie; indem sie reflektiert, klärt sie. Damit ist die Unsicherheit nicht nur der Grund für vieles, was in Gesprächen geschieht – ganz wertungsfrei. Sie ist auch der Ausgangspunkt vieler Lösungsansätze, in der Kommunikation und darüber hinaus. Auch im Jahr 2020! Es wäre nicht das erste Mal, dass unsichere Zeiten uns helfen, uns neu und besser zu ordnen – und zukünftig klarer miteinander zu reden.
Einen kurzen Impuls von Natalie Knapp zum Thema Unsicherheit können Sie sich auch hier anschauen: https://www.youtube.com/watch?time_continue=8&v=hgYtp7WNbK4&feature=emb_title&ab_channel=BusinessCircle