Wer lernen will, muss nicht mehr urteilen

Wer lernen will, muss nicht mehr urteilen 

Wie Sie bessere Gespräche und Beziehungen führen, indem Sie Ihre innere Haltung hinterfragen

Im Gespräch mit bestimmten Menschen oder in bestimmten Situationen laufen wir immer wieder gegen eine Wand. So sehr wir uns auch bemühen, Ruhe zu bewahren und konstruktiv zu argumentieren: Wir bleiben immer wieder in derselben Sackgasse stecken. Produktives Diskutieren oder Zusammenarbeiten wird so auf Dauer unmöglich. Wie eine Haltungsänderung den Umschwung bringt, erklärt René Borbonus. 

 

Fabian und Oliver arbeiten schon seit sieben Jahren in derselben Abteilung. Mit der Zeit haben sie eine Freundschaft aufgebaut. Lange Zeit gingen sie nach der Arbeit regelmäßig zusammen essen oder Squash spielen, um sich über die Arbeit und ihr Leben auszutauschen. Da sie über vieles einer Meinung waren, verliefen diese Gespräche die längste Zeit über harmonisch, und sie vertrauten einander vieles an.

Dann kam die Covid19-Pandemie, und mit der Welt und der Arbeit veränderte sich auch ihre Beziehung. Fabian zeigte sich von Beginn an als Verfechter des Prinzips Sicherheit und hielt sich stets akribisch an alle Vorsichtsmaßnahmen und Lockdown-Regeln. Oliver dagegen machte von Anfang an keinen Hehl daraus, dass er die Einschätzungen von Politik und Wissenschaft für überzogen hielt. Wo immer es ein Schlupfloch gab, die Bestimmungen zu umgehen, nutzte er es aus.

Binnen Monaten wandelte sich die Freundschaft der beiden in ein Minenfeld. Oliver machte sich über Fabians Vorsicht lustig; Fabian kritisierte Oliver dafür, dass er in Kundenterminen und Meetings jedes Mal sofort die Maske abnahm, wenn der Chef nicht dabei war. Oliver bezichtigte Fabian als Faulpelz, wenn der es vorzog, im Homeoffice zu arbeiten; Fabian warf Oliver vor, mutwillig die Gesundheit des ganzen Teams aufs Spiel zu setzen. Schließlich schaukelte sich die Auseinandersetzung eines Abends über dem Feierabendbier so weit hoch, dass Fabian Oliver offen als Verschwörungstheoretiker verurteilte, während Oliver Fabian als Mitläufer betitelte.

Seitdem sind nicht nur die privaten Treffen nach der Arbeit Geschichte; auch ihre Zusammenarbeit in der Abteilung hat massiv gelitten. Die gesamte Abteilung leidet unter der Gesprächsblockade. Der gemeinsame Vorgesetzte droht mit Konsequenzen. Vor allem aber steht eine Freundschaft auf dem Spiel.

Nur die innere Haltung kann Unterschiede versöhnen

Fabian und Oliver sind in einer kommunikativen Sackgasse gefangen, die zwar durch äußere Umstände ausgelöst wurde. Das Problem liegt jedoch nicht im Außen, sondern in der Haltung der beiden Streithähne. Unterschiedliche Meinungen gibt es in jeder Beziehung, unter Kollegen genauso wie unter Freunden und sogar Ehepaaren. Ob diese Unterschiede die Beziehung zerrütten, hängt letztlich davon ab, wie beide Seiten damit umgehen.

Wenn Fabian und Oliver ihre Freundschaft wichtig genug ist, gibt es auch einen Ausweg aus ihrer diskursiven Sackgasse. Vielen Freunden, Kollegen und Familien ist es im Zuge der Covid19-Pandemie so ergangen wie den beiden, und keine dieser Beziehungen muss verloren sein. Dasselbe gilt für Auseinandersetzungen über Klimafragen, den Ukraine-Krieg oder jedes andere kontroverse Thema, das die Menschen in unserem Land und in unserem Leben beschäftigt.

Solange wenigstens eine Seite den Willen hat, etwas an der Situation zu verändern, gibt es einen Ausweg. Doch der liegt nicht darin, sich die Köpfe heiß zu diskutieren, bis am Ende einer gewinnt. Wie im Krieg kann es in dieser Art von Debatte keinen Sieger geben.

Der Weg der Versöhnung beginnt nicht im Außen, auf der Debattenebene – sondern im Innen, auf der Haltungsebene.

Lernende vs. Urteilende Haltung

Ein Theoriemodell, das bei der Versöhnung diskursiver Polaritäten sehr hilfreich ist, ist das sogenannte „Learner-Judger Mindset Model“ der US-amerikanischen Psychologin Marilee G. Adams.[1] Es geht davon aus, dass jeder Mensch zwei diskursive Mindsets bzw. Haltungen in sich trägt, die zu unterschiedlichen Verhaltensweisen im Gespräch führen: die Lernende („Learner“) Haltung und die Urteilende („Judger“) Haltung.

Aus evolutionären Gründen tragen wir beide Haltungen in uns und werden beide unser ganzes Leben lang beibehalten.[2] Die Urteilende Haltung geht vor allem auf unseren Überlebensinstinkt zurück:[3] Unsere Vorfahren mussten blitzschnell zwischen Freund und Feind entscheiden und waren auf ein schnelles Urteilsvermögen und ihre Skepsis Fremdem gegenüber angewiesen, um nicht den Kürzeren zu ziehen. Die Lernende Haltung ist ein Produkt unserer Neugier und unseres Forscherdrangs, der unsere Zivilisation in ihrer heutigen Form überhaupt erst ermöglicht hat.

Abhängig von bestimmten Faktoren – zum Beispiel unserer Vorgeschichte mit der Person des Gesprächspartners – nehmen wir im Gespräch entweder die eine oder die andere Haltung ein. Das geschieht in der Regel unwillkürlich. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir keine Wahl hätten: in jedem Gespräch, bei jedem Gesprächspartner, in jeder noch so hitzigen Diskussion. Nicht nur können wir unserem Mindset in jeder konkreten Gesprächssituation auf die Schliche kommen; wir haben auch die Möglichkeit, es zu ändern. Langfristig ist das Ziel, sich der momentanen Haltung stets bewusst zu sein und das eigene Denk- und Gesprächsverhalten auf diese Weise besser kontrollieren zu können.

Folgende Merkmale zeichnen die jeweilige Haltung aus:[4]

Lernende Haltung Urteilende Haltung
Neugier Selbstgerechtigkeit
Flexibilität Kontrollbedürfnis
Offenheit Sicherheitsdenken

Grundsätzlich schwankt jeder Mensch mit individuell unterschiedlicher Frequenz und Intensität zwischen den beiden Haltungen, da beide zur menschlichen Natur gehören. Die momentan dominante Haltung führt in einem Gespräch zu bestimmten Verhaltensweisen, die der Verständigung entweder förderlich oder hinderlich sein können:[5]

Lernende Haltung Urteilende Haltung
Differenziertheit Abwertung
Akzeptanz Abgrenzung/Distanzierung
Verbundenheitsgefühl Destruktivität
Konstruktivität Aggressivität/Defensivität
Lösungsorientiertheit Selektives Hören
Positives Interpretieren Negatives Interpretieren
Fokus auf Gemeinsamkeiten Fokus auf Unterschiede
Wille zur Verständigung Wahrnehmung von Bedrohungen
Fragen statt Annahmen Annahmen statt Fragen

Entscheidend für das Verhalten in einer bestimmten Situation ist, wie wir aufgrund unserer aktuellen Haltung innerlich mit den Aussagen des Gegenübers umgehen, also: Welche Fragen wir uns selbst über die Gesprächsinhalte und die Motivation der anderen Person stellen. Wer seine inneren Urteile für die Dauer des Gesprächs suspendieren kann, weil er den Anderen wirklich verstehen will, stellt sich andere Fragen als jemand, der innerlich auf Abwehr schaltet, flach atmet und beim Reden die Fäuste ballt, weil er unbedingt Recht behalten will.

Das Geheimnis der Annäherung in Diskursen und in Beziehungen liegt also nicht darin, den anderen argumentativ zu übertrumpfen und von der eigenen Position zu überzeugen – sondern darin, ihm zu demonstrieren, dass man auch seine Meinung respektiert und daran interessiert ist, einen gemeinsamen Nenner zu finden und die Beziehung zu stärken.

Und wie funktioniert das im Gespräch? Es gibt einen einfachen Weg, fast jede noch so verfahrene Diskussion wieder zu einem offenen Gespräch umzugestalten: Wir müssen einfach nur die richtigen Fragen stellen – allerdings nicht dem Anderen, sondern zunächst einmal uns selbst.

Die richtigen Fragen lösen jede Gesprächsblockade

Solange wir in der Urteilenden Haltung bleiben, stellen wir uns innerlich bestimmte Arten von Fragen, während wir die Situation und die Beziehung zu verstehen und für uns zu bewältigen versuchen. Diese Fragen sind aber ganz und gar nicht geeignet, um die Situation aufzulösen, sondern führen uns vielmehr nur noch tiefer in die Urteilsspirale hinein.

So mag Fabian sich in seiner festgefahrenen Meinung über Oliver und seine Position in der Corona-Debatte zum Beispiel folgende Fragen stellen:

  • Wie kann er nur an diesen Verschwörungskram glauben?
  • Warum diskutiere ich überhaupt noch mit ihm, wenn er die wissenschaftlichen Fakten einfach ignoriert?
  • An welchem Punkt hat er den gesunden Menschenverstand verloren?
  • Warum macht er mit seiner Verantwortungslosigkeit unsere Freundschaft kaputt?
  • Was muss passieren, damit er seinen Irrtum erkennt und wieder zur Vernunft kommt?

Erkennt Fabian nun, dass er sich in der Urteilenden Haltung befindet, und wechselt bewusst in die Lernende Haltung, könnten folgende Fragen ihn zu einer anderen Sichtweise auf die Positionen seines Freundes und damit zu einer gezielt herbeigeführten Verständigung führen:

  • Wie ist mein Freund zu dieser Meinung gekommen?
  • Was wünsche ich mir für ihn und für unsere Freundschaft?
  • Was kann ich aus dieser Situation über ihn, über mich selbst und über diese Debatte lernen?
  • Welche Annahmen treffe ich über seine Meinung, ohne die Hintergründe zu kennen?
  • Wie kann ich unsere Freundschaft retten?

Das Beispiel zeigt, welche reflektierenden, inneren Fragen an sich selbst für die Lernende und welche für die Urteilende Haltung typisch sind:

Lernende Haltung Urteilende Haltung
Wie ist es dazu gekommen? Warum bin ich ein Versager?
Was wünsche ich mir und anderen? Warum sind die anderen so dumm?
Was kann ich daraus lernen? Wozu bemühe ich mich eigentlich?
Welche Annahmen treffe ich und was sind die Fakten? Wer ist schuld?
Was denken, fühlen und wollen die anderen? Wer zieht am Ende den Kürzeren, und wer behält Recht?
Verhalte ich mich verantwortungsvoll? Warum sind andere so verantwortungslos?
Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es? Macht das alles überhaupt noch Sinn?
Welche Wahl sollte ich treffen? Wie kann ich andere von ihrem Irrtum überzeugen?

Eine Lernende Haltung einnehmen: 3 Impulse für den Umschwung

Die Unterscheidung zwischen Lernender und Urteilender Haltung ist nicht nur in verfahrenen Beziehungen oder schwierigen Diskursen relevant, wenngleich sie dort besonders effektiv ist. Im Grund entscheiden wir uns in jedem Moment – in jeder Gesprächssituation und bei jedem Schritt in unserer alltäglichen Beziehungsgestaltung – für das eine oder das andere Mindset.

Wichtig ist, sich nicht dafür zu verurteilen, wenn man sich in der Urteilenden Haltung ertappt – sondern sich dessen so oft wie möglich bewusst zu werden und gezielt in die Haltung des Lernenden zu wechseln. Es geht nicht darum, die inneren Urteile auszumerzen, denn sie sind Teil unserer genetischen Programmierung. Wicht ist, eine gesunde Balance zu finden und ein Bewusstsein für den Unterschied zwischen beiden Haltungen zu entwickeln.

Wann immer Sie feststellen, dass ein Gespräch den konstruktiven Pfad verlassen hat oder eine Beziehung sich auseinanderentwickelt, halten Sie inne und klären Sie die Situation neu, um Ihr Gesprächsverhalten ändern zu können:

  1. Impuls 1: Überprüfen Sie Ihre eigene Haltung in diesem konkreten Moment bzw. rückblickend auf einen Dialog: Lernend oder Urteilend?
  2. Impuls 2: Unterbrechen Sie die innere Urteilsspirale und stellen Sie sich klärende Fragen, die auf Verständnis und Lösung zielen.
  3. Impuls 3: Unterbinden Sie abwertende und trennende Verhaltensweisen im Dialog und beginnen Sie, die Haltung des anderen zu ergründen.

 

[1] Adams, M.G., Schiller, M. and Cooperrider, D.L. (2004), „WITH OUR QUESTIONS WE MAKE THE WORLD“, Cooperrider, D.L. and Avital, M. (Ed.) Constructive Discourse and Human Organization (Advances in Appreciative Inquiry, Vol. 1), Emerald Group Publishing Limited, Bingley, pp. 105-124. https://doi.org/10.1016/S1475-9152(04)01005-1

[2] M.G. Adams et al.: Change Your Questions, Change Your Life Workbook, Berrett-Koehler Publishers 2022, S. 25f.

[3] Ebd., S. 25

[4] Ebd., S. 25

[5] Ebd., S. 28 f.

 

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