Sarah Bosetti ist meine Lockdown-Heldin
Nicht, weil sie es schafft, mich trotz anhaltend düsterer Perspektiven für die nächste Zeit zum Erstaunen und Verstehen und Lachen zu bringen – zum selbst- und trendkritischen Perspektivenwechsel, zur Introspektion. Dafür allein schon hätte sie einen Medienpreis und einen Orden verdient, keine Frage, aber das meine ich nicht: Mit ihrer YouTube-Reihe „Post von Sarah Bosetti“ ist die preisgekrönte, oft in den Öffentlich-Rechtlichen auftretende Satirikerin zur Ehrenrettung der Rhetorik in dieser vernunft- und humorfeindlichen Zeit angetreten. Unter der Flagge der Differenziertheit kämpft sie für die Debattenkultur, so wie sie in der Feminismus- und allen möglichen anderen Debatten ihre Frau steht: knallhart in der Sache, unfassbar charmant zum Menschen.
Die Waffen, zu denen sie dabei greift, sind dementsprechend: sanft, aber alles andere als stumpf. Ihrem rhetorischen Repertoire könnte man Rhetorische Zeitlupen in Fortsetzung widmen. Der Übersichtlichkeit und der rhetorischen Struktur halber beschränke ich mich in diesem Beitrag auf drei Strategien, die Sarah Bosetti in einem einzigen Video von unter drei Minuten vorführt. In diesem exemplarisch ausgewählten Video – einem von vielen – geht es um den SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach. Ja, ich weiß: schon wieder der, schon wieder Corona. Gerade deshalb ist es ja so beeindruckend, dass ich mich nach dem Video besser fühle als vorher. Und schlauer. Und menschlicher.
Das vermag Rhetorik, wenn man die richtigen Asse im Ärmel hat. Nehmen wir sie einmal genauer unter die Lupe: die drei Tugenden der Sarah Bosetti.
- Tugend: Erwartungshaltung mit Überraschungsmoment brechen
Den ersten Teil des Videos nutzt Sarah Bosetti dafür, ihr Publikum da abzuholen, wo es steht: bei seiner Erwartungshaltung über Karl Lauterbach, die schon durch den Titel getriggert wird. Diese Erwartungshaltung ist, da müssen wir nach einem Jahr Corona nicht lange drum herumreden, zementiert: Karl Lauterbach ist wie ein Kiesel im Schuh, ach was, ein ganzer Felsbrocken. Sarah Bosetti hat dem Volk aufs Maul geschaut, und redet ihm nach selbigem: „Lieber Herr Lauterbach, ganz ehrlich: Sie nerven. Sie nerven so sehr, mit all Ihren Warnungen und Forderungen und düsteren Voraussagen. Und überall hört und sieht und liest man Sie.“
So weit, so erwartungsgemäß: Wer würde das nicht sagen, über Karl Lauterbach, nach einem Jahr Pandemie. Jede Woche sitzt der Mann in den Talkshows und malt das Virus an die Wand, und wir können es nicht mehr hören – müssen es aber. Und während wir uns in der Lockdown-induzierten Sesselhaft so richtig schön in dieses Sentiment hineinsteigern, platzt Sarah Bosetti in die gemütlich kultivierte Fakten-Aversion hinein: „Ich weiß nicht, wann zum letzten Mal jemand so viele Menschen so sehr genervt hat. Und ich finde das großartig. Sie sind schließlich nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Politiker, und die Gefallsucht müsste Ihnen eigentlich auf die Stirn tätowiert sein. […] Es ist fast, als würden Sie aus Verantwortungsbewusstsein handeln.“
Mit dieser überraschenden Wendung küsst Sarah Bosetti uns als Zuhörer nicht nur wach. Sie lenkt auch die Aufmerksamkeit auf die weniger beachtete, aber weitaus wichtigere Seite der Medaille mit dem Konterfei von Karl Lauterbach: die mit den Zahlen, den Fakten, den Beweisen. Der Mann hat ständig Recht behalten, und seine Mahnungen sind verdammt noch mal nötig. Und das ist es, worauf es gerade wirklich ankommt.
- Tugend: Hass mit Empathie begegnen
Es ist keine Kleinigkeit, der sich Sarah Bosetti mit ihrem mutigen Liebesbrief an Karl Lauterbach annimmt: Was ihm von den weniger vernunft- und demokratiebegabten Fraktionen in der Debatte entgegenschlägt, ist nichts weniger als Hass. Diesem Hass differenziert zu begegnen ist fast noch schwieriger, als Karl Lauterbach ins Herz zu schließen. Doch ihr gelingt auch das.
Sarah Bosetti tritt dem Hass mit einer geradezu kontraintuitiven rhetorischen Strategie entgegen: Nächstenliebe, und zwar irgendwie tatsächlich im biblischen Sinne. Für die Gegenposition, die in der Corona-Debatte gern mit Füßen und alternativen Fakten getreten wird, hat sie allen Ernstes Empathie übrig. Die demonstriert sie, indem sie – statt Vorwürfe zu formulieren – ihr eigenes Unbehagen gegenüber all den Mahnungen und Einschränkungen offenlegt: „Wir sind nicht dazu gemacht, uns unsere Fehler einzugestehen. Und wir sind nicht dazu gemacht, unsere Erfolge anderen zuzuschreiben. Das Absurde an dieser Krise ist: Ich habe mir noch nie so sehr gewünscht, dass diejenigen, die ich für klug und vernünftig halte, im Unrecht sind.“
Damit demonstriert sie denen, die anders denken als sie selbst: „Auch ich fühle euren Schmerz – und bin trotzdem anderer Meinung.“ Auf diese Weise ruft sie zum differenzierten Denken auf, ohne die Forderung rechthaberisch auf ein Schild zu schreiben. Charmanter war Dialektik noch nie.
- Tugend: Mit Ironie dem Zynismus den Stecker ziehen
All das heißt natürlich nicht, dass Sarah Bosetti keine klare Kante gegen die völlig Verblendeten zeigen würde, denen wohl – leider – mit keinem rhetorischen Mittel mehr beizukommen ist. Die Verschwörungstheoretiker und Antidemokraten abholen zu wollen, das ist nach einem Jahr beispielloser Sichtbarkeit dieser Bevölkerungsgruppen leider nicht mehr zu leugnen, wäre zwecklos.
Gerade deren Zynismus bietet sich allerdings geradezu an, um der kritischen Masse in dieser Debatte mit einem Augenzwinkern entgegenzukommen: Denen, die sich in ihrer Krisenmüdigkeit und Überforderung zunehmend in den Zynismus flüchten. Dieser Zynismus in der Corona-Debatte hat das Potenzial, irgendwann in Anarchie zu kippen. Mit plumpen rhetorischen Mitteln ist ihm nicht beizukommen, denn die würden die Unzufriedenheit nur weiter anfachen. Deshalb wählt die Satirikerin Sarah Bosetti in diesem Duell statt der Pistole den Humor, genauer gesagt: die Ironie.
„In dieser Krise wünsche ich mir, dass die Idioten Recht behalten: Das Virus ist nicht real, wir müssen uns nicht einschränken, keine Rücksicht nehmen – nur gegen ein paar Echsenmenschen kämpfen, und schon ist wieder alles gut. Ich hoffe also, Herr Lauterbach, dass all Ihre Einschätzungen falsch und all Ihre Warnungen unberechtigt sind. Ich glaube es nicht, aber ich hoffe es.“ Ein Gedankengang, den auch Maßnahmen-Skeptiker und regierungskritische Menschen problemlos teilen können, so genervt sie von Karl Lauterbach und den anhaltenden Zumutungen der Pandemie auch sein mögen. Die Ironie zieht dem keimenden Zynismus den Stecker, indem sie den zugänglichen Zuhörer sanft in die selbstironische Introspektion schubst.
Drei Impulse für aufgeheizte Debatten, frei nach Sarah Bosetti
Diese drei Tugenden – und viele mehr – machen Sarah Bosetti zu der brillanten Rhetorikerin, die sie ist. Ihre Kunst, so hoch sie in diesem Fall ist, baut also letztlich auf einem greifbaren, rhetorischen Fundament auf. Das können Sie sich zunutze machen:
- Bedienen Sie die Erwartungshaltung der Menschen, und dann brechen Sie sie radikal. Auf diese Weise lenken Sie die Aufmerksamkeit auf die These – oder auch: Antithese – die Sie nun folgen lassen.
- Demonstrieren Sie Andersdenkenden, dass Sie sich in ihre Lage versetzen und trotzdem anderer Meinung sein könnten, ohne Urteile und Vorwürfe zu demonstrieren – so begegnen Sie Hass mit Empathie.
- Halten Sie Zynikern den Spiegel vor, indem Sie ihnen ironisch entgegenkommen. So erreichen Sie auf charmante Weise die, die Vernunftargumenten noch zugänglich sind – und positionieren sich klar gegen jene, die nicht hinhören wollen.
„Deshalb möchte ich Ihnen danken – für Ihre undankbare Rolle“, sagt Sarah Bosetti zum Abschluss Ihres „Briefes“ an Karl Lauterbachs Adresse. Ich möchte der Absenderin danken: für ihr rhetorisches Beispiel in dieser undankbaren Debatte.
Das Video „Post von Sarah Bosetti – Folge 18: Post für Karl Lauterbach“ (und viele ähnlich geniale mehr) können Sie sich auf dem YouTube-Kanal von Sarah Bosetti anschauen: https://www.youtube.com/watch?v=fZi1Bs_kvdE&feature=youtu.be&ab_channel=SarahBosetti