Botschaften der Einheit
Von der Kunst, an das Gute im Menschen zu appellieren
Appelle sind einer der schwierigsten Anwendungsfälle der Überzeugungsrhetorik. Zum Glück benötigen wir sie im Alltag relativ selten, da sie einen zwingenden Anlass voraussetzen. In Zeiten politischer Krisen und Kriege hören wir sie jüngst leider wieder häufiger. Ein Beispiel von höchster politischer Stelle zeigt, was dabei schiefgehen kann – und dass letztlich Nuancen den Unterschied zwischen Verständigung und Affront machen.
Können Sie sich an den letzten Appell erinnern, den Sie zu hören bekommen haben? Vermutlich hätte er also keiner sein sollen. Appelle sind Handlungsimpulse von hoher Relevanz und Dringlichkeit. Sie sollten nicht leichtfertig eingesetzt werden, denn dann nutzen sie sich schnell ab. Deshalb greifen rhetorisch versierte politische Absender nur in bestimmten Situationen zu diesem Mittel und formulieren dann sehr bewusst. Was leider nicht heißt, dass das immer klappt. Denn Appelle gehören zu den anspruchsvollsten Werkzeugen der Überzeugungsrhetorik. Der Unterschied zwischen „gut gemeint“ und „gut gemacht“ ist in den aufgeladenen Szenarien, die einen Appell rechtfertigen, meist ein sehr feiner.
Wenn Ihr Chef gerne hätte, dass Sie sich zum Quartalsende noch mal reinhängen, obwohl Sie schon zehn Stunden am Tag im Büro sind: kein Anlass für einen Appell, sondern für eine wohlwollende Argumentation. Die kleine Postfiliale in Ihrem Ort ist von Schließung bedroht und muss mehr Umsatz machen? Hier ist ein guter Sales Pitch gefragt, um in digitalen Zeiten mehr Briefmarken loszuwerden, keine vorwurfsvolle Grundsatzrede zur Kaufmoral am Schalter. Ihr Nachwuchs hätte gern einen Nachschlag aufs Taschengeld – am selben Tag, an dem eine horrende Nebenkosten-Nachzahlung ins Haus geflattert ist? Da hilft ein Appell zur Besinnung auf innere Werte wenig, vielmehr ist hier Einfühlungsvermögen vonnöten.
Ein gutes, historisches Beispiel für einen angemessenen Appell in äußerst relevanter Lage ist etwa Winston Churchills berühmte „Blut, Schweiß und Tränen“-Rede, mit der er die Nation auf den britischen Einsatz im Zweiten Weltkrieg einstimmte. Zweifellos ein extremes Beispiel, selbst für ein selektiv zu verwendendes rhetorisches Mittel. Doch leider zeigt die Zunahme von Appellen seitens Politik und anderen Autoritäten in den letzten Monaten, dass wir uns wieder in einer weltpolitischen Situation von hoher Brisanz befinden. Nach dem Ukraine-Krieg ist aktuell die Eskalation des Konflikts zwischen Israel und der palästinensischen Hamas ein politisches Sprengfass – nicht nur im Gazastreifen, sondern überall auf der Welt. Antisemitismus, aber auch Islamfeindlichkeit sind in vielen Ländern der Welt auch innenpolitische Probleme, die durch diesen Konflikt angeheizt werden – nicht zuletzt in Deutschland.
Aus diesem Grund sah sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede am 8. November 2023 zu einem Appell an die in Deutschland lebenden Menschen mit palästinensischen und arabischen Wurzeln veranlasst, der Hamas die Gefolgschaft zu versagen. Die Frage ist nur: War das der richtige Appell, an die richtige Zielgruppe, im richtigen Wortlaut? Der Journalist Yassin Musharbash, Sohn eines aus Jordanien immigrierten Lehrers und Politikers und einer Deutschen, stellte das in einem sehr persönlichen Kommentar in der ZEIT infrage – mit interessanten Impulsen für politische Rhetorik in Krisenzeiten, aber auch für die Gesprächsempathie im Alltag.
Die Zielgruppe: An wen richte ich mich?
Die Szenarien, in denen ein Appell tatsächlich die richtige Wahl ist, sind meist Ausnahmesituationen, in denen wir tatsächlich auch offen dafür sind – jedenfalls diejenigen, die der Appell überhaupt sinnhaft erreichen kann. Oft handelt es sich um herausfordernde Momente, in denen wir sowieso nach Orientierung suchen und von der Richtigkeit einer bestimmten Handlungsoption überzeugt werden wollen. Wir wissen, dass etwas auf dem Spiel steht – und sind zumindest grundsätzlich einmal an der Haltung einer Autoritätsperson interessiert.
In einer solchen, sensiblen Ausgangslage kann ein Appell auf fruchtbaren Boden fallen. Er kann aber auch das Gegenteil erreichen und Schaden anrichten, wenn er statt einer konstruktiven Handlungsoption eine Schuldfrage in den Vordergrund stellt. Der Interpretation von Yassin Musharbash folgend, tappte Frank-Walter Steinmeier mit einem Teil seiner Äußerungen innerhalb einer insgesamt gelungenen Rede genau in diese Falle.
Mit seinem Appell richtete er sich ausdrücklich an „die Menschen mit palästinensischen oder arabischen Wurzeln in Deutschland“. Das ist eine sehr große Bevölkerungsgruppe – und eine sehr heterogene. Richte ich mich an diese Vielzahl von Menschen, müssen meine Worte dieser Komplexität auch gerecht werden. Genau diese Erwartung löste Steinmeier Musharbash zufolge mit dem Appell jedoch nicht ein, der dann folgte:
„Lassen Sie sich von den Helfershelfern der Hamas nicht instrumentalisieren! Sprechen Sie für sich selbst! Erteilen Sie dem Terror eine klare Absage!“
Mit diesen Worten wird so einiges unterstellt – und zwar der gesamten Zielgruppe. Nämlich, dass sie konkret gefährdet sei, sich instrumentalisieren zu lassen, Extremisten nach dem Mund zu reden und dem Terror eben nicht klar abgeneigt zu sein. Das ist, rhetorisch und politisch, ziemlich harter Tobak. Yassin Musharbash bringt es prägnant auf den Punkt, indem er diagnostiziert, der Bundespräsident habe mit diesem Appell „eine Risikogruppe definiert“.
Es ist eben nicht die genannte Zielgruppe, der Steinmeiers Appell gilt, sondern eine wesentlich kleinere: diejenigen, die mit dem Gedankengut der Hamas und sogar mit dem Terror sympathisieren und bereits antisemitisch eingestellt sind. Diese Menschen gibt es in Deutschland, zweifellos – die islamistischen Demonstrationen in Berlin und anderen deutschen Städten seit der jüngsten Eruption der Gewalt im Nahen Osten zeigen das in aller Deutlichkeit. Doch an sie hat Steinmeier sich nicht explizit gewendet. Zurecht, denn es stellt sich die Frage: Können diese Menschen vom Appell eines demokratischen Staatsoberhaupts überhaupt erreicht werden?
Nach eigener Aussage richtete Steinmeier sich an die Gesamtheit der Menschen mit palästinensischen und arabischen Wurzeln. Das sind in der Tat die Menschen, in einer solchen Situation von ihm hören wollen und die für einen Appell zur Unterstützung freiheitlicher, demokratischer Werte in diesem historischen Moment auch größtenteils offen sein dürften. Doch für diese Menschen hat Steinmeier die falschen Worte gewählt.
Mit einem Appell – nicht nur in der Politik – richte ich mich immer an die Menschen, bei denen ich mit offenen Ohren für meinen Aufruf rechnen kann. Sonst ist der Versuch von vornherein müßig. Feindlich gesinnte Adressaten muss ich anders ansprechen – und gezielt. Ein politischer Appell richtet sich an die argumentationsoffene Mehrheit, nicht an die gesinnungsbornierte Minderheit.
Auf jeden Unterstützer der Hamas kommen Tausende friedliebende, demokratisch orientierte Menschen mit arabischen Wurzeln, die deren Taten genauso verurteilen wie die meisten Menschen in Deutschland. Leider verschätzen wir uns in aufgeheizten Debatten leicht bei der Verhältnismäßigkeit unserer Aussagen. Man muss nicht Bundespräsident sein, um damit genau das Gegenteil dessen zu erreichen, was man eigentlich beabsichtigt hatte: Distanz statt Zusammenrücken.
Der Zweck: Was will ich erreichen?
Das zweite Kriterium für einen erfolgreichen Appell ist die Frage, was genau mit der Handlungsaufforderung erreicht werden soll, die mit dem Appell transportiert wird. Kommen wir zur Veranschaulichung noch einmal auf Winston Churchills berühmte Rede vor dem britischen Unterhaus vom Pfingstmontag 1940 zurück. Darin verlangte er seinen Bürgern in einem dramatischen Appell an deren Zusammenhalt und Leidensbereitschaft das Äußerste ab – erfolgreich, wie die Geschichte zeigt. Das gelang ihm, weil er den gemeinsamen Nutzen, nämlich den Schutz der Nation und deren freiheitlicher Wertegemeinschaft in den Mittelpunkt stellte:
„Ich habe nichts zu bieten als Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß. {…} Sie fragen, was unser Ziel ist: ich kann in einem Worte erwidern: es ist der Sieg – Sieg um jeden Preis – Sieg trotz aller Schrecken, Sieg, wie lang und hart auch immer der Weg sein mag, denn ohne Sieg gibt es kein Überleben – seien Sie sich darüber klar – kein Überleben für das Britische Weltreich, kein Überleben für all das, wofür das Britische Weltreich eingetreten ist {…}, und ich bin überzeugt, unsere Sache wird nicht untergehen dürfen bei den Menschen. In dieser Zeit fühle ich mich berechtigt, die Hilfe aller in Anspruch zu nehmen.“
Churchill argumentierte als Zweck seines Appells also das, was die britische Öffentlichkeit verband: die Erhaltung ihrer Nation, ihrer Kultur und ihrer Lebensweise, die vom Nazi-Regime bedroht wurde.
Der Zweck von Frank-Walter Steinmeiers Appell war Solidarität mit den jüdischen Mitbürgern, bzw. mit den demokratischen Grundwerten unserer Gemeinschaft, die auf freiheitlichem Fundament beruht. Die Form, die er für diesen Appell wählte, suggeriert jedoch eben nicht die Einigkeit derer, an die er sich wendet. Stattdessen impliziert sie den Vorwurf einer Distanz zu diesen Werten, „als gäbe es da eine unbeantwortete Frage“, wie Musharbash es wahrnimmt.
Wenn der Zweck Solidarität ist, müssen meine Worte Menschlichkeit voraussetzen: Sie müssen sich auf das Gemeinsame beziehen, nicht auf das Trennende.
Die Ansprechhaltung: Wie nutze ich meine Autorität?
Der Grund für die inkonsistente Form des Appells liegt in den ersten beiden Punkten dieser Analyse: In Steinmeiers Rede passten Zielgruppe und Zweck des Appells nicht zusammen. Das Resultat war eine Unstimmigkeit beim dritten Kriterium eines wirkungsvollen Appels: seine Ansprechhaltung war fehlgeleitet.
Man kann darüber streiten, ob der Bundespräsident sich mit den falschen Worten an die richtige Zielgruppe, oder aber mit den richtigen Worten an die falsche Zielgruppe gewendet hat: Die Inkonsistenz wird dafür gesorgt haben, dass sein Appell bei vielen Menschen ins Leere gelaufen ist – oder sogar als Affront wahrgenommen wurde.
Spreche ich aus einer Position der Autorität heraus, ist die Gefahr stets groß, moralisch überlegen und herablassend zu wirken – bevor auch nur ein Wort gesagt ist. Deshalb muss ich mit meinen Formulierungen stets diesem Risiko entgegenwirken – egal, um welche Art von Äußerung es sich handelt. Bei einem Appell, der in hohem Maße moralisch motiviert ist und moralisch argumentiert, ist das Risiko umso höher. Die Frage, die tonangebend für einen Appell sein sollte, ist folgende: Wie nutze ich meine Autorität, um das erklärte Ziel meines Appells zu erreichen? Diese Frage sollte immer aus der Sicht der Adressaten gestellt werden.
Die Ansprechhaltung eines wirksamen Appells ist nicht in erster Linie fordernd und schon gar nicht moralisierend, sondern empathisch. Als Absender sollte ich mich in die Sicht der Zielgruppe hineinversetzen und den Zweck des Appells vor diesem Hintergrund begründen, nicht aus der Sicht des Fordernden mit moralischer Deutungshoheit. Die entscheidende Frage in diesem Beispiel lautet also: Wie kann ich an die Unterstützung der Menschen mit palästinensischen oder arabischen Wurzeln in Deutschland appellieren? Indem ich die Gemeinsamkeiten betone – die Schnittmenge demokratischer Überzeugungen, die sie mit allen anderen hier lebenden Menschen teilen. Denn nur diese Schnittmenge kann und wird realistisch dafür sorgen, dass diejenigen, die für den Appell offen sind, sich tatsächlich gegen Antisemitismus und Terror stellen.
Diese Feststellung ließ Yassin Musharbash in einen alternativen Formulierungsvorschlag für diesen Teil der Rede einfließen, den er sich nach eigener Aussage von seinem Bundespräsidenten gewünscht hätte: „Wir wissen, wie viele von Ihnen in diesen Tagen helfen, den Zusammenhalt in diesem Land zu bewahren. Wie viel Sie erklären müssen und wie oft Sie sich missverstanden oder unverstanden fühlen. Das ist anstrengend. Aber wir benötigen Ihre Hilfe.“
Fazit: Appelle sind Botschaften der Einheit
Die Ausgangslage, die in der Politik, aber auch in anderen Dialogkonstellationen für einen Appell sorgt, ist in der Regel eine akute Notwendigkeit, die rasches Handeln erfordert. Oft schleicht sich dabei ein moralisches Gefälle in die Ansprechhaltung, weil der Anlass vermeintlich bedingungslose Zugeständnisse rechtfertigt. Genau diese Herangehensweise ist beim Appellieren an „das Gute“ oder „das Richtige“ jedoch zum Scheitern verurteilt. Das liegt daran, dass Moral immer mit Schuld argumentiert, wo es eigentlich um Augenhöhe geht.
Ein wirksamer Appell beruft sich auf Solidarität mit geteilten Werten. Diese einfache Formel wird rhetorisch eingelöst, indem der Appell
- sich an Menschen richtet, die dafür zugänglich sind;
- sich in seiner Zielstellung auf das Gemeinsame bezieht, nicht das Trennende;
- in seiner Ansprechhaltung Empathie für die Adressaten demonstriert.
Rhetorisch betrachtet sind Appelle weder Wünsche noch Befehle. Appelle sind Botschaften der Einheit, die uns das gewünschte Handeln als folgerichtig erkennen lassen. Insofern handelt es sich beim Appell um ein sehr selektives Spezialwerkzeug aus dem Arsenal der respektvollen Kommunikation. Seine größte Herausforderung besteht darin, Augenhöhe herzustellen, indem er ein subjektiv vorausgesetztes Hierarchiegefälle überwindet.
Kommen Sie gut an!
Ihr René Borbonus