Gretchenfragen
Wie Entscheider um Verständnis werben können
Wir Deutschen haben eine kurze Zündschnur, wenn Fehler passieren. Politikern, Managern und anderen Verantwortungsträgern wird rückblickend oft vorgeworfen, sie hätten es besser wissen und anders entscheiden müssen. Ein Vorschlag von einem der besten Rhetoriker der Republik zeigt, warum Führende ihren Entscheidungsprozess öfter offenlegen sollten: Transparenz hilft, in schwierigen Situationen Akzeptanz zu gewinnen.
Die liebsten Veranstaltungen sind mir als Vortragsredner die, bei denen ich etwas dazulernen kann – zum Beispiel von anderen Rednern. Bei einer Gala-Veranstaltung teilte ich mir kürzlich die Bühne mit einem der besten Rhetoriker und beliebtesten Politiker des Landes: Gregor Gysi. Er sprach unter anderem über ein Thema, das mich als Kommunikationstrainer seit langem bewegt: Wie wirbt man um Akzeptanz für schwierige Entscheidungen? Wie verkündet man unliebsame Botschaften? Wie kommuniziert man schwer verdauliche Beschlüsse glaubwürdig, ohne argumentativ eine Hälfte der Wahrheit wegzulassen?
Besonders in der Politik sind Entscheidungen unter höchstem Sach- und Verantwortungsdruck keine Seltenheit. Viele davon sind klassische Gretchenfragen – Fragen also, die den Antwortenden in unangenehme Situationen bringen können, bis hin zur existenziellen Bedrängnis.
Gerade in der Politik stolpern Karrieren nicht selten über eine einzelne Gretchenfrage – egal, ob die Antwort zum Zeitpunkt der Entscheidung nachvollziehbar war oder nicht. Doch auch in der Wirtschaft und in anderen verantwortungsvollen Rollen gilt es immer wieder Akzeptanz zu gewinnen. Gregor Gysi warb bei seinem Vortrag dafür, den oft unvorstellbar schwierigen Prozess der Entscheidungsfindung sichtbar zu machen – aus gutem Grund.
Die schwere Last der Verantwortung
Wenn Menschen in herausgehobenen Positionen schwierige Entscheidungen treffen müssen, stehen sie oft zwischen den Stühlen. Zur Herausforderung, ausreichend informiert zu sein, kommt die Last der Verantwortung: Wer wird von welcher Handlungsoption profitieren, wer darunter leiden, und welchen Kompromiss ist eine Lösung wert?
Als Beispiel für eine solche Argumentation führte Gregor Gysi in seinem Vortrag den politischen Umgang mit dem Corona-Virus an. Die am heftigsten umstrittenste Frage in dieser Zeit war die Debatte, ob zum Schutz der Bevölkerung die Grundrechte angepasst werden durften oder nicht.
Wie soll man damit umgehen, fragte Gregor Gysi rhetorisch ins Publikum – insbesondere als Gesundheitsminister? Kein Minister dieser Welt könnte realistisch auch nur ansatzweise über ausreichende wissenschaftliche Kompetenz verfügen, um eine solche Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen aus eigener Kenntnis heraus zu beantworten. Das zu verlangen wäre unrealistisch: Selbst ein Gesundheitsminister mit Medizinstudium kann unmöglich auf der Höhe der Forschung in jedem medizinischen und angrenzenden Fachgebiet sein. Minister müssen nicht fachkompetent sein, ergänzte Gysi: Ihre Rolle besteht darin, für das zu haften, was in ihrem Verantwortungsbereich geschieht – Fehlinformationen und Trugschlüsse inbegriffen.
Deshalb werden in der Politik Experten zu Rate gezogen. Bei Beschlüssen hoher Tragweite kommen häufig sogar ganze Expertenkommissionen zum Einsatz, in denen Forscher aus verschiedenen Disziplinen sachdienliche Informationen beitragen. Die Entscheidungsmacht selbst verbleibt am Ende jedoch immer bei der Politik, da Wissenschaftler ihre neutrale Rolle zu wahren haben.
Keine einfachen Entscheidungen
Im Normalfall ist die Expertenmeinung innerhalb solcher Kommissionen und meist sogar international einhellig, denn die zugrundeliegenden Forschungsergebnisse lassen in der Regel homogene Schlüsse zu. In der Corona-Pandemie, führte Gregor Gysi aus, standen wir jedoch vor einer völlig neuen Situation: Zum ersten Mal waren die Experten sich eben nicht einig, weil selbst die Wissenschaft keinen belastbar vergleichbaren Präzedenzfall und damit keine eindeutigen Daten parat hatte. Eine klare Empfehlung war somit oft unmöglich. Vielmehr mussten die Forscher ihre Einschätzung permanent der aktuellen Lage anpassen – was dazu führte, dass sie untereinander häufig zu unterschiedlichen Interpretationen kamen.
So gab es Virologen, die argumentierten: Eine Einschränkung der Grundrechte wäre sinnvoll, weil es ohne sie zu Hunderttausenden zusätzlichen Infektionen und Tausenden weiteren Todesfällen kommen könnte. Und die, führte Gregor Gysi eindringlich aus, hätte ich als Minister dann auf dem Gewissen. Auf der anderen Seite gab es aber auch Experten, die diese Interpretation für übertrieben hielten und keine signifikante Besserung der Situation durch eine Einschränkung der Grundrechte in Aussicht stellten.
Vor solchen Gewissenskonflikten standen Politiker auf Bundes- und auch auf lokaler Ebene permanent, als sie während der Pandemie ständig schwierige Entscheidung zu fällen hatten. Covid19 mag in vielerlei Hinsicht ein Sonderfall sein, doch: So etwas wie einfache Entscheidungen gibt es in der Politik nicht. Wie geht man mit diesem permanenten Dilemma um? Diese Gretchenfrage stellte Gregor Gysi sich auf der Bühne selbst – und kam zu einer überraschenden Empfehlung.
Er als Gesundheitsminister, so Gysi, hätte das Dilemma an die kritischen Medien, und damit auch an die breitere Öffentlichkeit, durchgereicht. Nicht im Sinne der Entscheidungsmacht, natürlich, sondern im rhetorischen Sinne: Er hätte, so der Redner, die unterschiedlichen Expertenmeinungen und damit das politische Dilemma offen kommuniziert, um dann die rhetorische Frage an die Journalisten und Bürger zu richten: Wie würden Sie damit umgehen? Welche Entscheidung würden Sie treffen? Wie leicht würden Sie sich tun mit der Beantwortung einer Frage, auf die zu diesem Zeitpunkt niemand, nicht einmal die weltbesten Experten, die wissenschaftlich richtige Antwort kennen? Wie würden Sie damit zurechtkommen, wenn es um Leben und Tod und das Wohlergehen einer ganzen Gesellschaft geht?
Die Entscheidung, daran äußerte auch Gregor Gysi keine Zweifel, müssen am Ende trotzdem die Volksvertreterinnen und Volksvertreter treffen, denn dafür wurden sie ins Amt gewählt. Doch die rhetorische Einbeziehung kann helfen, den gefühlten Graben zwischen Führenden und Geführten zu überbrücken, der die Umsetzung notwendiger Veränderungen in unserem Land oft so unsäglich zäh macht. Gewohnheitsskepsis und Dauerprotest werden schwieriger, wenn Gretchenfragen nicht immer reflexartig an die Mächtigen delegiert werden, sondern mit dem eigenen Gewissen in Einklang zu bringen sind – wenigstens virtuell.
Transparenz fordern heißt Irrtümer respektieren
Erklären statt verkünden: Das ist eine Forderung, die seit langem an die Politik gestellt wird. Doch Transparenz zu fordern ist nur die eine Seite dieser Medaille; Akzeptanz dann auch zu gewähren ist die andere. Das zeigt zum Beispiel die Tatsache, wie heftig zum Beispiel Robert Habeck für seine Kehrtwende in der Kernkraft-Frage kritisiert wird, obwohl ihm nach aktueller Faktenlage kaum eine andere Wahl bleibt. Und Habeck gehört bereits zu einer neuen Generation von Politikern, die wesentlich mehr kommunizieren und die Argumentationen für wichtige Entscheidungen vergleichsweise offen darlegen – ein Umstand, der ihn politisch schon mehr als einmal beinahe das Amt gekostet hätte.
Wenn wir mehr Offenheit von unseren Politikern fordern, müssen wir ihnen zugleich auch größere Spielräume für persönliche Lernfortschritte zugestehen – egal ob es um eine Pandemie, die Energiewende oder Waffenlieferungen an die Ukraine geht. Wir können nicht fordern, dass Politiker sich angreifbarer machen, indem sie mehr Informationen über ihre Entscheidungsfindung mit uns teilen – und dann postwendend ihren Kopf fordern, wenn sie sich auch nur einmal irren.
Mehr Transparenz fordern heißt Irrtümer zulassen. Wenn Politiker gar nicht die Chance bekommen, Fehler zu bereuen – wie sollen sie jemals daraus lernen, die richtigen Konsequenzen zu ziehen und in Zukunft bessere Entscheidungen zu treffen? Solange die öffentliche Debatte um Führung sich darin erschöpft, jede zusätzliche Information gegen den Entscheider zu verwenden, werden Führende auch weiterhin das Gegenteil dessen tun, was Gregor Gysi fordert – und werden so wenig wie möglich kommunizieren.
Wenn wir von Führenden erwarten, dass sie mehr preisgeben, dann müssen wir sie auch mit einem fairen Diskurs dafür belohnen. Das gilt für die Medien genauso wie für den Volksmund.
Fazit: Akzeptanz ist keine Einbahnstraße
Gregor Gysis Vorschlag, schwierige Entscheidungsprozesse transparent zu vermitteln, kann nicht nur in der Politik zum Einsatz kommen. Überall, wo die Sachlage uneindeutig ist und die Meinungen auseinandergehen, kann es zu Fehlzuschreibungen kommen – in der Führung, in Vereinen, sogar in Familien.
Wichtig ist dabei allerdings auch die Erkenntnis, dass Entscheidungen immer zwei Seiten haben: die beschließende und die ausführende. Was ich als Vater entscheide, ist die eine Sache; wie meine Kinder mit meinem Beschluss umgehen, ist die andere. Kinder sind auch nur Menschen; sie verstehen besser, warum der Ausflug ausfallen muss, wenn sie Papas Termindilemma nachvollziehen können. Wähler sind auch nur Bürger; sie können mehr Verständnis für politische Wagnisse aufbringen, wenn sie erkennen, was wirklich auf dem Spiel steht. Die größte Chance auf Akzeptanz ist Offenheit – nicht nur gezwungenermaßen, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, sondern proaktiv und nachhaltig.
Menschen folgen Menschen, die sie als verlässlich erleben. Vertrauen auch in Gretchenfragen muss man sich verdienen – ob als Minister, Manager oder Mutter.
Kommen Sie gut an!
Ihr René Borbonus