Nicht protestieren ist auch keine Lösung

Nicht protestieren ist auch keine Lösung

Plädoyer für eine Diskurskultur der Mitte

Öffentliche Debatten spielen sich in Deutschland zunehmend in Extremen ab. Das jüngste Beispiel – und eines der dramatischsten – ist die Debatte über den Tod einer jungen Frau während einer Straßenblockade durch Umweltaktivisten. Haben die Protestierenden sie auf dem Gewissen, oder die Gesellschaft die Protestierenden? Die Fragen, die wir uns stellen sollten, sind ganz andere. Und welche, dass thematisiere ich in diesem Fachartikel.

„Notwehr“ und „Terror“ sind im deutschen Rechtssystem zwei sehr unterschiedliche Konzepte – unvereinbar, könnte man beinahe sagen. Und doch sind es diese beiden sehr weit voneinander entfernt eingeschlagenen Pflöcke auf dem Schlachtfeld des öffentlichen Diskurses, um die Anhänger der einen oder der anderen Theorie sich derzeit versammeln, um einander aus sicherer Entfernung mit äußerst grobkörnigem Schmutz zu bewerfen.

Selbst bei Duellen auf Leben und Tod, wie sie bei sehr strittigen Moralfragen bis ins 19. Jahrhundert hinein noch üblich waren, gingen die Kombattanten immerhin noch einige Schritt aufeinander zu. So konnten sie sich in die Augen sehen, bevor sie abdrückten. In der Debatte um die Protestaktionen von Umweltaktivisten, die seit kurzem die Schlagzeilen beherrschen, bleibt das Schlachtfeld zwischen den beiden Pflöcken unbegangen. Man brüllt sich aus der Entfernung an, wohl deshalb auch besonders laut.

Das Problem ist: So wurde noch in keinem Dialog eine Klärung erzielt. Diskurs geht anders. Und wir haben das vergessen. Wir haben es vergessen, und das fügt unserer Demokratie bleibende Schäden zu.

Die Debatte ist nötig, der Ton daneben

Man darf es nicht kleinreden: Was in Berlin im Umfeld einer Straßenblockade durch Umweltaktivisten vorgefallen ist, ist eine Tragödie von epischen Ausmaßen. Sollte sich herausstellen, dass die Verantwortung für den Tod einer Berlinerin sich unstrittig an einer singulären Kausalität festmachen lässt, muss der Verursacher dieser Handlung die Konsequenzen für sein Tun tragen. Daran darf kein Zweifel bestehen.

Es ist allerdings so – und das weiß ich aus eigener Erfahrung – dass deutsche Unfallermittler solche Fragen exzellent und zweifelsfrei zu klären wissen. Sie können exakt bestimmen, welche Ursache bei einem Unfall welche Wirkung gezeitigt hat und was ihr Ausbleiben an diesem Ausgang geändert hätte. Bis ins kleinste Detail mit unzähligen Variablen funktionieren diese Berechnungen. So wird es, so arithmetisch-kalt das auch klingen mag, auch in diesem Fall sein: Man wird feststellen können, ob und welche Mitschuld die Protestierenden tragen. Und dann wird man sie, wenn das Gesetz es so vorsieht, zur Rechenschaft ziehen. Das ist richtig so, denn der Tod verlangt immer nach Klarheit.

Doch ist das tatsächlich die Frage, die wir diskutieren? Ich habe nicht diesen Eindruck. Vielmehr beobachte ich, dass die Vorverurteilung der Protestierenden aus ganz anderen Debatten herrührt, die mit dem tragischen Tod einer jungen Frau gar nichts zu tun haben. Aus einer ganzen Reihe von anderen Debatten, genau genommen, die wir mit zunehmender Verbitterung und Verhärtung führen, an einer wachsenden Zahl von Fronten. Sie rührt aus einer Debatten-Unkultur, die auf eine zunehmende, subkulturelle Verkapselung hindeutet. Das ist noch für keine Demokratie eine gute Nachricht gewesen. Demokratie lebt vom Austausch der Unterschiede, nicht von der Grenzziehung.

Worum geht es in einem Diskurs eigentlich?

Diese Verkapselung, nicht die eigentliche Debatte, lässt den Diskurs entgleisen und ganze Bevölkerungsgruppen schon mal ihre Umgangsformen vergessen – auf beiden Seiten, soviel ist gewiss. Auf die Straße der Sachlichkeit zurückkehren können wir nur, wenn wir durch den hormonellen Nebel der Befangenheit in den eigenen Widerständen hindurchblicken und uns fragen, worum es in dieser Debatte eigentlich geht.

Gerade, dass der Kontext des Ereignisses in Berlin so verworren ist, macht den Verlust einer unbeteiligten Mitbürgerin so unendlich tragisch. Ginge es einfach nur um Schuld, wäre alles viel einfacher: Schuldfragen werden in der Vergangenheitsform geklärt, lehrte schon Aristoteles. Die Frage, an der sich gerade vermeintlich die Gemüter erhitzen – nämlich was Protest heute darf und was nicht – ist weitaus komplexer. Sie dreht sich um Werte; ein Themenfeld, dem Aristoteles zufolge die Zeitform der Gegenwart zugeordnet ist. Und sie dreht sich, aufseiten der Protestierenden jedenfalls, um Entscheidungen, die unsere Zukunft betreffen – ein Gespräch, das lösungsorientiert im Futur zu führen wäre, folgten wir Aristoteles.

Damit ist die ganze rhetorischen Spannbreite des Diskurses eröffnet, den wir zu führen haben: drei verschiedene Debatten, und doch alles eins. Das Problem ist, dass der Diskurs in seiner gegenwärtigen Form nur einen Bruchteil des Bodens berührt, den wir eigentlich zu beackern haben. Gehört werden die nur die Sirenen auf ihren weit voneinander entfernten Felsen, die aus einem Ozean der Zwischentöne herausragen. Diese Debatte ist so schwierig und wird so erbittert geführt, weil es in ihr um viel mehr geht als um klar umgrenzte Fragen. Solange wir uns das nicht eingestehen, wird es ein unüberschaubarer Clusterfuck von Inseldebatten bleiben.

Die Zeit der Inseldebatten ist in unserer Gesellschaft, in unserer Realität vorbei. Nichts ist mehr einfach, nichts ist mehr gut oder schlecht.

Ziviler Ungehorsam als Diskursstrategie

Deshalb sind die Gedanken von Habermas und anderen zum Begriff des „zivilen Ungehorsams“, die von ZEIT-Journalisten in die Analyse des Themas einbezogen wurden, in der Tat ein faszinierender Realitätsabgleich. Die Geschichte des Begriffs ist nämlich genauso komplex, vielschichtig und oft auch widersprüchlich wie die diskursive Gemengelage, an der wir gerade verzweifeln. Er ist als moralische Erpressung der Mehrheit durch eine Minderheit genauso ausgelegt worden wie als adäquates Mittel zur Ausschöpfung notwendiger Transformationspotenziale.

Natürlich, darauf weisen die Autoren des ZEIT-Beitrags warnend hin, muss selbst eine so grundsätzliche Debatte wie die um den Klimawandel in den Leitplanken rhetorisch zulässiger Mittel bleiben, damit sie überhaupt als Dialog geführt werden kann. Gegen die „Zerstörung der Welt“ verblasst natürlich alles andere, sogar die Rechtsstaatlichkeit. Wer sich seine Begrifflichkeiten und sein Spielfeld außerhalb des gesellschaftlich noch Gestalt- und Verhandelbaren sucht, wird auch mit extremen Mitteln nur immer noch mehr Widerstand erzeugen. Wenn es nichts mehr zu reden gibt, ist auch keiner mehr zu reden bereit.

Andererseits darf sich eine gefühlte Mehrheit nicht auf sich selbst ausruhen, nur weil sie das kann. Auch in Deutschland, auch im Rechtsstaat ist das Regelwerk des öffentlichen Zusammenlebens ein natürliches Material, dass sich bewegt und dabei auch mal knarzt. Das darf so. Sonst hätten Frauen heute noch kein Wahlrecht. Ziviler Ungehorsam, dem politischer Protest entspringt, schließt per Definition den Regelbruch ein – nicht aber, und diese Unterscheidung ist bedeutsam, die Regellosigkeit. Womit wir wieder beim Ausgangspunkt wären: dem begrifflichen Spektrum zwischen „Terror“ und „Notwehr“.

Die Antworten in den Begriffen suchen

Terrorismus, wie extreme Meinungsmacher das Handeln der Umweltaktivisten in Berlin betitelt haben, setzt anarchistische Absichten voraus: Er will die Gesellschaft zerstören, die er attackiert. Die Umweltaktivisten kämpfen um die Erhaltung der Gesellschaft, in der sie leben wollen. Terror, das können wir rein begrifflich zweifelsfrei ableiten, ist anders. Und doch hilft der Begriff uns, über die Beweggründe derer nachzudenken, die ihn hier verwenden, und ihre Emotionen zu verstehen. Das mangelnde Bekenntnis, die trotzige Erklärungsverweigerung der radikaleren unter den Umweltbewegungen, sie verunsichert viele Menschen, die sich in ihrem Lebensentwurf bedroht sehen.

Notwehr ist zweifellos ebenfalls eine mutige Auslegung dessen, was in Berlin geschehen ist. Als Interpretation dessen, was die Protestierenden und ihre Generation im Großen und Ganzen antreibt, sollten wir ihn allerdings genauso berücksichtigen wie die Gefühle derer, die sich davon angegriffen fühlen. Denn dass es den Jungen buchstäblich an den Kragen geht, ist mit keiner seriösen wissenschaftlichen Beweisführung mehr zu widerlegen. Wenn das Genehmigungsverfahren für eine Solaranlage acht Jahre dauert, während wir den Klimazielen bereits heute um Jahre hinterherhinken – wie genau soll eine „zivile Positionierung“ denn dann aussehen? Wie sollen diejenigen, deren Zukunft auf dem Spiel steht, denn gesetzeskonform verfahren? Wie wäre der Diskurs denn genehm? Nein, nicht protestieren ist auch keine Lösung.

Die Begriffsferne und die mangelnde Gesprächsbereitschaft: Das sind die Hürden, über die wir auf beiden Seiten des Diskurses springen müssen, damit es wieder vorangeht. Wir müssen uns wieder einfinden im weiten, differenzierungsfähigen Feld der diskursiven Mitte. Das ist nämlich der Bereich, in dem die meisten Menschen sich ohnehin aufhalten. Man hört sie nur nicht, weil die Mitte nicht schreit.

Dialog heißt nicht Harmonie

Ich versteige mich an dieser Stelle einmal zu einer mutigen These: Weder beabsichtigen die meisten protestierenden Umweltaktivisten, am Tod unbeteiligter Menschen mitzuwirken – noch ist den meisten Berliner Autofahrern daran gelegen, den nachfolgenden Generationen ihre Zukunft zu nehmen. Die Realität, in der wir uns befinden und die wir deshalb auch rhetorisch zu bewältigen haben, ist aber: Beide Seiten haben sich mit dem jeweiligen Vorwurf auseinanderzusetzen. In seiner Substanz, nicht nur in seiner Tonalität. Mit dem einzigen Mittel, das eine Demokratie dafür vorsieht: dem Dialog. Nötigenfalls auch vor Gericht. Sogar geschiedene Eheleute sollen schon mal wieder zueinander gefunden haben. Nichts, worum es sich zu kämpfen lohnt, ist einfach. Demokratie schon gar nicht.

Wir müssen diese beiden scheinbar unvereinbaren Konzepte wieder zu vereinen lernen: kontrovers und lösungsorientiert zugleich debattieren. Die Debatten, die anstehen, sind anders nicht zu führen. Entweder so, oder eben wirklich: Anarchie, das Ende des Dialogs. Keiner von uns will sie. Was haben wir also davon, sie herbeizureden?

Wir müssen keine Gegensätze vereinen, wir müssen nicht einer Meinung sein. Wir müssen nur bereit sein, einander zuzuhören. Wenn ich ein Motiv habe, dann hat der andere vermutlich auch eines. Wir alle haben ein Recht auf unsere Hoffnungen und Ängste. Dialog heißt nicht Harmonie, Dialog heißt Auseinandersetzung. Man muss sich anderen Positionen aussetzen, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Schaffen wir das?

 

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