Die Kunst der rhetorischen Zumutung

Die Kunst der rhetorischen Zumutung

Der Nahost-Konflikt ist nicht nur für die Diplomatie, sondern auch für die politische Rhetorik eine Art Enigma: ein ewiger Reminder, was geschehen kann, wenn Verständigung nicht funktioniert. Auch nach Jahrzehnten ist die Weltgemeinschaft einer möglichen diplomatischen Lösung, ja auch nur einer dauerhaften Annäherung nicht auf die Spur gekommen. Die jüngste Eskalation nach den barbarischen Angriffen der Hamas am 7. Oktober dieses Jahres schockiert die inzwischen leider wieder an Kriege gewöhnte Weltöffentlichkeit bis ins Mark – gerade weil sie in eine Phase der Annäherung zwischen Israel und einigen seiner arabischen Nachbarstaaten fiel. Unsere Politiker stellt die Situation vor die besondere Herausforderung, Worte für etwas zu finden, das uns naturgemäß die Sprache verschlägt.

Robert Habeck hat sich in einer kurzen, aufgezeichneten Rede an die Deutschen gewandt, um seine Sicht der Dinge und die Haltung der Bundesregierung in dieser diplomatisch, aber auch innenpolitisch komplexen Gemengelage zu schildern. Immerhin kochen auch in deutschen Städten seit Ausbruch der Kriegshandlungen die Emotionen hoch. Auch bei uns stehen sich 80 Jahre nach dem Holocaust teilweise überraschend unterschiedliche Positionen auf der Straße gegenüber; auch Teile der deutschen Öffentlichkeit sind gespalten. Diesen Eindruck jedenfalls vermitteln die Fernsehbilder einiger Demonstrationen in Berlin und anderen Städten – und genau dieser Eindruck mag Robert Habeck Anlass gewesen sein, sich in die Debatte einzuschalten.

In der Regel verhalten Politiker sich in solchen Situationen gern diplomatisch-versöhnlich und bemühen sich um Vermittlung. Robert Habeck ist bei diesem Anlass einen anderen Weg gegangen: Er hat überraschend klar und offen Position dazu bezogen, wie diese Debatte geführt wird, und sich damit nicht nur beliebt gemacht. Jenseits der politischen Dimension hat er damit rhetorisch einen interessanten Vorstoß gewagt: Seine Rede lotet aus, was politische Rhetorik der Öffentlichkeit zumuten darf.

Bemerkenswert sind vor allem drei Aspekte, die Habecks politischen Kommunikationsstil nicht nur bei diesem Anlass kennzeichnen:

  • Klarheit in der Formulierung
  • Differenziertheit in der Sache
  • Reaktanzresistenz im Appell

In gewisser Weise ist seine Rhetorik damit manchmal eine Zumutung: Sie lotet aus, was politische Rhetorik den Menschen abverlangen kann.

Viel Aufmerksamkeit hat die Rede, die etwa vier Wochen nach der Eruption der Gewalt seitens der Hamas ausgestrahlt wurde, vor allem für Habecks Stellungnahme zur vieldiskutierten Staatsräson bekommen: jüdisches Leben in Deutschland zu schützen. Habeck brachte den oft fehlinterpretierten Kern dieser Debatte so emotional wie unmissverständlich auf den Punkt:

„Es war die Generation meiner Großeltern, die jüdisches Leben in Deutschland und Europa vernichten wollte. Die Gründung Israels war danach, nach dem Holocaust, das Schutzversprechen an die Jüdinnen und Juden – und Deutschland ist verpflichtet zu helfen, dass dieses Versprechen erfüllt werden kann. Das ist ein historisches Fundament dieser Republik. Die Verantwortung unserer Geschichte bedeutet genauso, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland frei und sicher leben können. Dass sie nie wieder Angst haben müssen, ihre Religion, ihre Kultur offen zu zeigen. Genau diese Angst aber ist nun zurück. {…} Die jüdischen Gemeinden warnen ihre Mitglieder, bestimmte Plätze zu meiden – zu ihrer eigenen Sicherheit. Und das heute, hier, in Deutschland, fast 80 Jahre nach dem Holocaust.“

Schon bei verschiedenen Gelegenheiten hat Habeck bewiesen, dass klare Formulierungen ihm im Zweifel wichtiger sind als politisch unverfängliche. Er fängt mit seinen Worten gern den Kern einer Fragestellung ein – auch auf die Gefahr hin, sich mit einer sachlich klaren Positionierung unbeliebt zu machen. In diesem Fall stellt er seine Interpretation der Staatsräson unmissverständlich klar und weiß sie hochpräzise durchzudeklinieren. Damit kommt er jeglichem Versuch der Umdeutung eines demokratisch und rechtsstaatlich unumstößlichen Prinzips zuvor. Durch diese demonstrative Klarheit, könnte man einwenden, schränkt er ein Stück weit den Rahmen der Debatte ein. Doch er tut es gerade weil andere versuchen, mithilfe dieser Debatte die Grenzen des demokratisch Legitimierten auszuleiern. Klarheit in der Formulierung ist manchmal nicht nur wichtig, um zu verstehen – sondern auch, um die Einhaltung der Spielregeln anzumahnen.

Auf dieser hochpräzisen Grundsatzklärung baut Habeck im Anschluss auf, als er Antisemitismus in jeglicher Form anprangert – und dabei zur Überraschung vieler zuerst eine andere, ihrerseits selbst schützenswerte Bevölkerungsgruppe direkt anspricht:

„Wir haben sicherlich oft zu viel Empörung in unserer Debattenkultur. Aber hier können wir gar nicht empört genug sein. Es braucht jetzt Klarheit und kein Verwischen. Und zur Klarheit gehört: Antisemitismus ist in keiner Gestalt zu tolerieren – in keiner. Das Ausmaß bei den islamistischen Demonstrationen in Berlin und in weiteren Städten Deutschlands ist inakzeptabel und braucht eine harte politische Antwort. {…} Die hier lebenden Muslime haben Anspruch auf Schutz vor rechtsextremer Gewalt – zu Recht. Wenn sie angegriffen werden, muss dieser Anspruch eingelöst werden. Und das gleiche müssen sie jetzt einlösen, wenn Jüdinnen und Juden angegriffen werden. Sie müssen sich klipp und klar von Antisemitismus distanzieren, um nicht ihren eigenen Anspruch auf Toleranz zu unterlaufen. Für religiöse Intoleranz ist in Deutschland kein Platz.“

Wie differenziert Habeck hier argumentiert, ohne sich dabei in jegliche Relativierung oder Anbiederung zu verlaufen, ist bemerkenswert. Der Minister weiß, dass er mit dieser Argumentation Kritik einladen wird – und entscheidet sich doch dafür, diese unangenehme politische Analogie zu wagen, weil sie den Kern des Themas betrifft. Diesen Aspekt der Debatte innerhalb Deutschlands auszublenden wäre eine Verfälschung der innenpolitischen Dimension des Themas; eine rhetorische Auslassung, die Habeck verweigert, um der Notwendigkeit der Differenzierung genüge zu tun. Schließlich kommt er der dem Gebot der Vollständigkeit nach, als er im Anschluss auch auf andere Absender antisemitischer Botschaften und deren Gefahrenpotenzial hinweist: deutsche Rechtsextreme genauso wie Teile der politischen Linken.

Auch an anderer Stelle zeigt Habecks Rede exemplarisch, dass politische Rhetorik starke Reaktionen nicht scheuen muss. Vielmehr kann sie sogar gezielt Resilienz gegen antidemokratische Stimmen aufbauen, indem sie einfach nur sauber argumentiert:

„Natürlich muss sich Israel an das Völkerrecht und an internationale Standards halten. Aber der Unterschied ist: wer würde solche Erwartungen je an die Hamas formulieren? Und weil ich kürzlich im Ausland damit konfrontiert wurde, wie der Angriff auf Israel am 7. Oktober als – Zitat – „unglücklicher Vorfall“ verharmlost wurde, ja sogar die Fakten in Frage gestellt wurden, noch einmal hier in Erinnerung gerufen: Es war die Hamas, die Kinder, Eltern, Großeltern in ihren Häusern bestialisch ermordet hat. Deren Kämpfer Leichen verstümmelt haben, Menschen entführt und lachend der öffentlichen Demütigung ausgesetzt haben. Es sind Berichte des schieren Horrors, und dennoch wird die Hamas als Freiheitsbewegung gefeiert? Das ist eine Verkehrung der Tatsachen, die wir nicht stehen lassen können.“  

Rhetorisch zu differenzieren und dennoch klar zu formulieren, Stellung zu beziehen und dennoch sauber zu argumentieren: In Zeiten einfacher Erklärungen und emotional hochgezüchteter Debatten wirkt diese Art politischer Kommunikation manchmal beinahe schon anachronistisch und stur. Dabei ist sie in so komplexen und brandgefährlichen Debatten, wie wir sie gerade täglich führen, praktisch alternativlos. Robert Habecks vielbeachtete Rede zeigt, dass man Menschen auch und gerade heute differenzierende Klarheit zumuten darf und starke Reaktionen auch als öffentliche Person nicht scheuen muss, wenn man dabei auf unumstößliche Prinzipien einer demokratischen Debattenkultur vertraut. Woran sonst sollten wir uns orientieren?

Die volle Rede von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck zu Israel und Antisemitismus können Sie hier anschauen.

 

Bildnachweis/Urheberrecht: Grüne im Bundestag; S. Kaminski

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