Rhetorische Zeitlupe: Blöde Fragen – und ein paar weniger blöde Alternativen

Blöde Fragen – und ein paar weniger blöde Alternativen

Woher kommst du? Es gibt wenige Fragen, die zugleich so gewöhnlich sind und so viel Zündstoff enthalten. In meinen Augen liegt das nicht, wie Alltagsrassisten und Verschwörungstheoretiker gern verbreiten, an Befindlichkeiten politischer oder soziologischer Minderheiten. Es liegt daran, dass uns nichts näher ist und mehr beschäftigt als das komplexe soziale Konstrukt unserer Herkunft. Wer einmal darüber nachdenkt und in sich hineinspürt, kann das sofort nachvollziehen.

Warum gehen wir im Dialog mit anderen, insbesondere mit den sogenannten „Fremden“, dann so sorglos mit diesem Thema um?

Die Frage, was die Herkunft damit zu tun hat, wer wir sind und wie sich das auf unser Leben im Großen und Ganzen auswirkt, beschäftigt die meisten Menschen ein Leben lang. Und es beschäftigt sie naheliegenderweise umso mehr, je mehr ihre Herkunft thematisiert wird. Das vergessen jene, die die Frage unreflektiert stellen, ohne sich über deren Kontext und Timing Gedanken zu machen. Ein Mensch, der täglich von seinem Umfeld anhand seiner Herkunft definiert und damit permanent in eine bestimmte Rolle gedrängt wird, die er nicht selbst bestimmt hat, kann diese Frage nicht ohne weiteres auf ihre unschuldigste Implikation reduzieren, oder anders gesagt: von der bestmöglichen Intention des Fragestellers ausgehen. Es handelt sich ja nun einmal naturgemäß um eine Frage, die wir von Menschen gestellt bekommen, die wir noch nicht gut kennen.

Überhaupt neigen wir dazu, zu vergessen: Fragen haben, nicht weniger als andere Satzarten, eine beabsichtigte und eine erzielte Wirkung, und beide sind nicht zwingend identisch. Auch wenn eine Frage aus unschuldigem Interesse gestellt wird, muss der Gefragte es nicht automatisch voraussetzen. Bei einer Frage, die mehr emotionale Reaktanz in sich trägt als irgendein anderes Thema, gilt die Unschuldsvermutung für den Fragesteller deshalb nur sehr bedingt. Im Jahr 2023 können wir wissen, dass die Frage nach der Herkunft eines Menschen keine einfache und schon gar keine unschuldige Frage ist. Wer sie stellt, sollte zu einem ernsthaften, offenen und potenziell auch herausfordernden Dialog bereit sein – oder die Frage zurückstellen, bis er es ist.

Wie oft Menschen das nicht sind, wenn sie herkunftszentrierte Fragen stellen, zeigen einige Dialoge aus Social Media und anderen Quellen, die wir zu Zwecken der Dialoganalyse gesammelt haben. „Feiert man bei euch auch Weihnachten?“ – „In Nürnberg-Tannenberg? Ja.“ gehört da noch zu den glimpflichen Verläufen. Ein Gesprächsablauf, der typischer ist, als ich wahrhaben möchte, klingt zum Beispiel so:

„Woher kommst du?“

„Aus Wanne-Eickel.“

„Okay, aber woher kommen deine Eltern?“

„Die kommen aus Dortmund.“

„Nein, ich meine: Wo kommt deine Familie ursprünglich her?“

„Also, meine Großeltern sind in der Türkei geboren.“

„Herrje, schlimm, das mit Erdogan.“

Und dann wundern wir uns, wenn so ein Dialog schwierig wird?

Woher kommst Du eigentlich? ist eine Frage, die auch Khalil Khalil häufig gestellt wird. Die Antwort lautet, um es vorwegzunehmen: Baden-Baden. Da lebt und arbeitet der Journalist mit Jura-Abschluss, und zwar seit geraumer Zeit. Und an dieser Stelle wäre die Frage nach der Herkunft in den meisten Gesprächen auch beantwortet, wäre da nicht dieser Name: Khalil Khalil. Der sorgt für das „eigentlich“ hinter dem Du; als bräuchte das Du eine Rechtfertigung, wenn es Khalil heißt. Deshalb gibt es neben Khalil eine wachsende Zahl weiterer Du’s, die sich mit dieser Frage nicht sonderlich wohlfühlen, weil sie auf unangenehme Weise das Ich berührt. Darüber hat der gebürtige Syrer in der Respekttrainer-Ausbildung und als Teilnehmer an der Menschlichen Bibliothek schon des Öfteren im Seminarhaus Lichtung an der Pegnitz gesprochen.

Als ich ihm kürzlich wieder bei seinem Dialog mit der Gruppe zuhörte, fiel mir auf, dass diese Frage oft in guter Absicht gestellt wird. Einige der Trainingsteilnehmer konnten sehr gute Gründe nennen, warum sie sich nach der Herkunft eines Menschen erkundigen. Aufrichtiges Interesse war einer davon, und wahrscheinlich der häufigste. Doch wie so häufig ist auch bei dieser Frage das Problem nicht, was wir sagen, sondern wie wir es sagen. Wir können einen Menschen auch ohne „Othering“ nach seiner Geschichte fragen, also: ohne sich mit seinen Worten unbewusst zu distanzieren und dem Gesprächspartner das Gefühl zu geben, er gehöre nicht zu „uns“.

Wenn wir aufrichtiges Interesse an einem Menschen haben, fragen wir ja nicht der reinen Information wegen, als wären wir das Statistische Meldeamt. Wir fragen, um seine Geschichte zu hören. Die muss nicht bei der Herkunft beginnen, um interessant zu sein. Aber sie mag, wenn der Gefragte dazu bereit ist, irgendwann dorthin führen. Hat nicht jeder Mensch das Recht, zu bestimmen, wie er seine Geschichte erzählt?

Es gibt viele Fragen, die einen guten Gesprächseinstieg bilden. Warum es also nicht einmal mit einer davon probieren, anstatt mit dem einen Thema einzusteigen, dass nahezu verlässlich zu Irritation und Entfremdung führen kann? Hier sind einige Ideen:

  • Wovon träumst du?
  • Was kannst du am besten?
  • Wie geht es dir heute?
  • Wen bewunderst du?
  • Wofür setzt du dich ein?
  • Was tust du gern und was ungern?
  • Wo würdest du leben, wenn du die freie Wahl hättest?
  • Was macht dich traurig?
  • Wofür kannst du dich begeistern?
  • Was liest du?

Khalil Khalil empfiehlt übrigens: „Wohin gehst du eigentlich?“ Ein interessanter Mensch wird spannende Antworten auf fast jede Frage finden. Warum ihn auf seine Herkunft reduzieren, bevor er eine Chance hatte, den Rest der Geschichte zu erzählen?

 

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